Art. 1 Abs. 2 Buchst. b) EuGVVO grenzt aus dem Anwendungsbereich der EuGVVO nur Verfahren aus, die in den Anwendungsbereich der EuInsVO fallen.

Die Verordnungen sind hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs so auszulegen, dass jede Regelungslücke und Überschneidung vermieden wird. Klagen, die vom Anwendungsbereich der EuGVVO ausgeschlossen sind, weil sie unter „Konkurse, Vergleiche oder ähnliche Verfahren“ einzuordnen sind, fallen in den Anwendungsbereich der EuInsVO. Spiegelbildlich fallen Klagen, die nicht in den Anwendungsbereich der EuInsVO fallen, unter die EuGVVO[1]. Der Begriff „Zivil und Handelssachen“ und damit der Anwendungsbereich der EuGVVO ist, wie u.a. aus dem Erwägungsgrund (10) der EuGVVO hervorgeht, weit zu fassen. Der Anwendungsbereich der EuInsVO darf demgegenüber nach ihrem Erwägungsgrund (6) nicht weit ausgelegt werden[2].
Nach Art. 6 Abs. 1 EuInsVO sind Gerichte eines Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO eröffnet wurde, nur für alle Klagen ausschließlich zuständig, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen[3].
Eine Klage geht unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervor, wenn der der Klage zu Grunde liegende Anspruch oder die ihr zu Grunde liegende Verpflichtung nicht den allgemeinen Regeln des Zivil und Handelsrechts, sondern den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren entspringt. Der Gesichtspunkt zur Bestimmung des Gebiets, dem eine Klage zuzurechnen ist, ist nicht der prozessuale Kontext, in dem diese Klage steht, sondern deren Rechtsgrundlage[4].
Im hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall einer Klage des Insolvenzverwalters der Air Berlin plc bedeutete dies:
Nach dem im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung maßgeblichen Vortrag des Insolvenzverwalters geht die Klage nicht unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervor. Der der Klage zu Grunde liegende Anspruch entspringt den allgemeinen Regeln des Zivil und Handelsrechts und nicht abweichenden Regeln für das Insolvenzverfahren.
Die Rechtsgrundlage, auf die der Insolvenzverwalter seinen Zahlungsanspruch stützt, ist der Comfort Letter vom 28.04.2017, mit dem die Beklagte sich der Schuldnerin gegenüber rechtlich bindend verpflichtet haben soll, diese in die Lage zu versetzen, ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen. Klagen wegen der Erfüllung von Verpflichtungen aus einem Vertrag, der vom Schuldner vor Eröffnung des Verfahrens abgeschlossen wurde, gehen nach Erwägungsgrund 35 der EuInsVO nicht aus dem Insolvenzverfahren hervor. Um eine solches, den allgemeinen Regeln des Zivil und Handelsrechts unterliegendes Rechtsgeschäft handelt es sich nach dem Insolvenzverwaltervorbringen[5].
Die Zielrichtung, mittels des Comfort Letter die Insolvenz der Schuldnerin zu vermeiden, schafft eine bloß wirtschaftliche Verknüpfung mit dem Insolvenzverfahren. Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist aber zu entnehmen, dass eine bloß wirtschaftliche Verknüpfung für die Anwendung der EuInsVO nicht genügt, sondern eine rechtliche Verknüpfung erforderlich ist. In Verfahren, die der Gerichtshof dem Anwendungsbereich der EuInsVO zugeordnet hat, waren für die Entscheidung über die Klage durchweg nationale Vorschriften des Insolvenzverfahrensrechts oder des materiellen Insolvenzrechts maßgeblich[6].
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann ebenfalls nichts für die Anwendung der EuInsVO hergeleitet werden.
Aus der Entscheidung des Unionsgerichtshofs in der Rechtssache Gourdain[7] lässt sich nicht ableiten, dass ein Verfahren seine Rechtsgrundlage insbesondere dann in einem Insolvenzverfahren habe, wenn nur der Insolvenzverwalter den betreffenden Anspruch geltend machen könne.
Vom Unionsgerichtshof ist vielmehr geklärt, dass allein die Tatsache, dass eine Klage nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens von dem im Rahmen dieses Verfahrens bestimmten Insolvenzverwalter erhoben wurde und dieser im Interesse der Gläubiger handelt, nicht zu einer wesentlichen Änderung der Art einer Klage führt, die von einem Insolvenzverfahren unabhängig ist und materiellrechtlich weiterhin dem allgemeinen Recht unterliegt[8]. In der Rechtssache Gourdain ging es um eine Haftungsklage gegen den Geschäftsleiter einer Gesellschaft, die nur vom Konkursverwalter geltend gemacht werden konnte. Die der Klage zu Grunde liegende Vorschrift war materiell dem Insolvenzrecht zuzuordnen. Der Generalanwalt hat dazu in den von der Rechtsbeschwerde zitierten Schlussanträgen ausgeführt, dass dem Insolvenzrecht auch solche Ansprüche zuzuordnen seien, die auch im allgemeinen Zivilrecht bestünden, die aber im Konkursrecht eine so entscheidende Veränderung erführen, dass sie nach ihrer Zwecksetzung als dem Konkursrecht gehörend anzusehen seien[9]. Im vorliegenden Fall ist für den Bundesgerichtshof nicht ersichtlich, dass die der Klage zu Grunde liegenden Ansprüche aus dem Comfort Letter durch das Insolvenzrecht eine vergleichbare Veränderung erfahren haben, und solches ist auch nicht ersichtlich.
Auch hat der Unionsgerichtshof in der Rechtssache Riel[10] nicht ausgesprochen, dass Art. 6 Abs. 1 EuInsVO anwendbar sei, wenn die Anspruchsgrundlage zwar dem allgemeinen Zivil und Handelsrecht entspringe, es für den Rechtsstreit aber auf die Anwendung nationaler insolvenzrechtlicher Vorschriften ankomme.
Verfahrensgegenstand war eine Prüfklage nach der österreichischen Insolvenzordnung. Der Gerichtshof ordnete die Klage ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage dem Insolvenzrecht zu, weil sich abgesehen davon, dass die in § 110 der österreichischen Insolvenzordnung vorgesehene Prüfklage im Insolvenzrecht zu verorten sei aus dem Wortlaut der Bestimmung ergebe, dass die Klage im Rahmen eines Insolvenzverfahrens von den daran beteiligten Gläubigern bei Streitigkeiten über die Rangordnung von ihrerseits erhobenen Forderungen erhoben werden könne[11]. Eine vergleichbare Verflechtung mit insolvenzrechtlichen Vorschriften weist die hier gegenständliche Leistungsklage nicht auf.
Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu § 64 GmbHG aF kann ebenfalls nichts für die gegenteiligen Ansicht gewonnen werden. Der Unionsgerichtshof hat mehrfach entschieden, dass eine Klage, die der Insolvenzverwalter einer Gesellschaft gegen deren Geschäftsführer auf Rückzahlung von Beträgen erhebt, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit geleistet wurden, in den Anwendungsbereich der EuInsVO fällt[12]. Der Bestand des hier streitbefangenen Anspruchs hängt dagegen nicht von der Insolvenzreife der Schuldnerin ab und auch die sich aus seiner Nichterfüllung ergebenden Ansprüche setzen sie nicht voraus.
Desweiteren verwirft der Bundesgerichtshof auch das Argument, es handele sich bei der vorliegenden Klage um eine im Interesse aller Gläubiger liegende Prärogative des Insolvenzverwalters im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache ÖFAB[13], weil der Insolvenzverwalter mit ihr letztlich auf eine Einstellung des Insolvenzverfahrens nach § 212 InsO abziele.
Der Hinweis auf § 212 InsO verfängt schon deshalb nicht, weil jede erfolgreiche Leistungsklage zum Wegfall des Eröffnungsgrunds führt, wenn der Masse dadurch ausreichende Liquidität zugeführt wird. Im Übrigen hat der Gerichtshof in der Bezugsentscheidung gerade entschieden, dass eine auf ein „Versprechen“, an die Gläubiger einer Gesellschaft zu zahlen oder der Gesellschaft die erforderlichen Geldmittel zur Verfügung zu stellen, gestützte Klage keine im Interesse aller Gläubiger auszuübende ausschließliche Prärogative des Verwalters sei, sondern es sich um Rechte handele, die die Gesellschaft im eigenen Interesse wahrnehmen könne[14].
Schließlich ist es nach Ansicht des Bundesgerichtshofs unerheblich, dass bei der Bestimmung der Schadenshöhe insolvenzrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen sein mögen. Für die Zuordnung der Klage zum Insolvenzrecht kommt es, wie bereits ausgeführt, allein auf deren Rechtsgrundlage an.
Die Frage, ob eine unbegrenzte Finanzierungszusage, als die der Insolvenzverwalter den Comfort Letter verstanden wissen will, in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EuInsVO fällt, ist dem Europäischen Gerichtshof nicht zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorzulegen.
Eine Vorlage ist entbehrlich, weil die sich stellende Frage nach der Auslegung des Unionsrechts durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs in einer Weise geklärt ist, die keinen Raum für vernünftigen Zweifel lässt (acte éclairé)[15].
Auf Grundlage der vom Europäischen Gerichtshof zur Abgrenzung von EuGVVO und EuInsVO entwickelten Kriterien besteht nach dem Vorgesagten kein Zweifel, dass der der Klage zu Grunde liegende Anspruch nicht unmittelbar dem Insolvenzrecht, sondern dem allgemeinen Zivil und Handelsrecht entspringt. Bereits der Oberste Gerichtshof der Republik Österreich beurteilte eine interne Patronatserklärung in diesem Sinne, ohne Raum für vernünftigen Zweifel auszumachen[16].
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15. Juni 2021 – II ZB 35/20
- EuGH, Urteil vom 04.10.2018 C337/17, ECLI:EU:C:2018:805 = ZIP 2019, 142 Rn. 30 Feniks; Urteil vom 18.09.2019 C47/18, ECLI:EU:C:2019:754 = ZIP 2019, 1872 Rn. 33 Riel; Urteil vom 20.12.2017 C649/16, ECLI:EU:C:2017:986 = ZIP 2018, 185 Rn. 24 Valach, noch zur Verordnung (EG) 1346/2000 des Rates vom 29.05.2000 über Insolvenzverfahren ((ABl.2000, L 160, S. 1; im Folgenden: EuInsVO aF[↩]
- EuGH, Urteil vom 20.12.2017 – C-649/16, ECLI:EU:C:2017:986 Rn. 25 = ZIP 2018, 185 Rn. 25 Valach mwN[↩]
- vgl. dazu die st. Rspr. des EuGH, Urteil vom 20.12.2017 – C-649/16, ECLI:EU:C:2017:986 = ZIP 2018, 185 Rn. 26 Valach mwN[↩]
- EuGH, Urteil vom 21.11.2019 – C-198/18, ECLI:EU:C:2019:1001 = ZIP 2019, 2360 Rn. 31 CeDeGroup mwN[↩]
- vgl. zur Patronatserklärung OGH, ZIP 2017, 829; Mankowski, EWiR 2017, 247[↩]
- Schadensersatzklage gegen Geschäftsleiter nach französischem Recht: EuGH, Urteil vom 22.02.1979 C133/78, Slg. 1979, I733 Gourdain; Insolvenzanfechtungsklage nach §§ 129 ff. InsO: Urteil vom 12.02.2009 C339/07, ECLI:EU:C:2009:83 = ZIP 2009, 427 Rn. 16 ff. Deko Party Belgium; § 64 GmbHG aF: Urteil vom 04.12.2014 C295/13, ECLI:EU:C:2014:2410 = ZIP 2015, 196 Rn.19 ff. H; Zuordnung zwischen Haupt und Sekundärinsolvenz: Urteil vom 11.06.2015 C649/13, ECLI:EU:C:2015:384 = ZIP 2015, 1299 Rn. 29 ff. Nortel; Schadensersatzklage gegen Mitglieder eines Gläubigerausschusses: Urteil vom 20.12.2017 C649/16, ECLI:EU:C:2017:986 = ZIP 2018, 185 Rn. 22 ff. Valach; Klage auf Feststellung zur Insolvenztabelle: Urteil vom 18.09.2019 C47/18, ECLI:EU:C:2019:754 = ZIP 2019, 1872 Rn. 37 ff. Riel; Klage auf Unwirksamkeit einer Hypothek nach insolvenzrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs: Urteil vom 04.12.2019 C493/18, ECLI:EU:C:2019:1046 = ZIP 2020, 80 Rn. 30 ff. Tiger u.a.[↩]
- EuGH, Urteil vom 22.02.1979 C133/78, Slg. 1979, I733 Rn. 5 Gourdain[↩]
- EuGH, Urteil vom 10.09.2009 C292/08, ECLI:EU:C:2009:544 = ZIP 2009, 2345 Rn. 29 ff. German Graphics Graphische Maschinen GmbH; Urteil vom 04.09.2014 C157/13, ECLI:EU:C:2014:2145 = ZIP 2015, 96 Rn. 29 Nickel&Goeldner Spedition; Urteil vom 06.02.2019 C535/17, ECLI:EU:C:2019:96 = ZIP 2019, 524 Rn. 29 NK; Urteil vom 21.11.2019 C198/18, ECLI:EU:C:2019:1001 = ZIP 2019, 2360 Rn. 35 f. CeDeGroup; jeweils mwN[↩]
- EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Reischl vom 07.02.1979 – C-133/78 Gourdain, ECLI:EU:1979:33, S. 756[↩]
- EuGH, Urteil vom 18.09.2019 – C-47/18, ECLI:EU:C:2019:754 = ZIP 2019, 1872 Riel[↩]
- EuGH, Urteil vom 18.09.2019 – C-47/18, ECLI:EU:C:2019:754 = ZIP 2019, 1872 Rn. 37 Riel[↩]
- EuGH, Urteil vom 04.12.2014 C295/13, ECLI:EU:C:2014:2410 = ZIP 2015, 196 Rn.19 ff. H; Urteil vom 10.12.2015 – C-594/14, ECLI:EU:C:2015:806 = ZIP 2015, 2468 Rn. 15 ff. Kornhaas[↩]
- EuGH, Urteil vom 18.07.2013 – C-147/12, ECLI:EU:C:2013:490 = ZIP 2013, 1932 ÖFAB[↩]
- EuGH, Urteil vom 18.07.2013 – C-147/12, ECLI:EU:C:2013:490 = ZIP 2013, 1932 Rn. 25 ÖFAB[↩]
- st. Rspr. seit EuGH, Urteil vom 27.03.1963 C28/62, Slg. 1963, 60, 81 da Costa; acte clair: EuGH, Urteil vom 06.10.1982 Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 13 f. = NJW 1983, 1257 C.I.L.F.I.T.; Urteil vom 09.09.2015 C160/14, ECLI:EU:C:2015:565 = EuZW 2016, 111, 114 Rn. 38 Ferreira da Silva; jeweils mwN[↩]
- OGH, ZIP 2017, 829[↩]