Europäische Haftbefehl – und das Verbot der Doppelbestrafung

Das in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) aufgeführte Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem), welches in Art. 50 GRCh verankert ist[1], fordert, dass niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wurde, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft wird.

Europäische Haftbefehl – und das Verbot der Doppelbestrafung

Mit diesem Verbot wird das Ziel verfolgt, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Vertragsstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Gebiet der Europäischen Union frei bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Vertragsstaat wegen derselben Tat verfolgt wird[2]

Allerdings schützt das Verbot einen Verdächtigen nicht davor, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Vertragsstaaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt ist[3]. Denn die Auslegung der Rechtskraft einer strafrechtlichen Entscheidung eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 50 GRCh und Art. 54 SDÜ muss im Lichte von Art. 3 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) erfolgen und entsprechend nicht nur die Notwendigkeit, die Personenfreizügigkeit zu gewährleisten, sondern auch die Notwendigkeit berücksichtigen, die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu fördern[4].

Der Begriff einer rechtskräftigen Verurteilung beziehungsweise eines rechtskräftigen Freispruchs nach Art. 50 GRCh in Verbindung mit Art. 54 SDÜ umfasst nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht nur richterliche Strafurteile oder Freisprüche, sondern kann auch staatsanwaltliche Einstellungsentscheidungen betreffen, die das nationale Ermittlungsverfahren endgültig abschließen[5].

Das Verbot in Art. 50 GRCh impliziert zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde[6]. Die Beurteilung, ob der Betroffene wegen der ihm vorgeworfenen Tat als „rechtskräftig abgeurteilt“ im Sinne von Art. 50 GRCh und Art. 54 SDÜ gilt und damit Strafklageverbrauch eintritt, ist deshalb auf der Grundlage des Rechts des Mitgliedstaats vorzunehmen, der die betreffende strafrechtliche Entscheidung erlassen hat[7].

Dabei bedarf es der Vergewisserung, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache erfolgt ist[8]. Eine Einstellungsentscheidung, die ohne eigene Sachprüfung und damit ohne Beurteilung des dem Beschuldigten angelasteten rechtswidrigen Verhaltens ergeht, ist keine Entscheidung im Sinne von Art. 50 GRCh und Art. 54 SDÜ. Diese Auslegung steht im Einklang mit dem legitimen Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit von Personen, die eine Straftat begangen haben, einem Ziel, das sich in den Kontext des in Art. 3 Abs. 2 EUV vorgesehenen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, einfügt[9]. Diesem Ziel liefe es offensichtlich zuwider, wenn durch eine solche Entscheidung die konkrete Möglichkeit, das einem Beschuldigten angelastete rechtswidrige Verhalten in einem betroffenen Mitgliedstaat zu ahnden, beeinträchtigt oder sogar ausgeschlossen werden würde[10]. Folglich kann die Einstellungsentscheidung einer Staatsanwaltschaft, mit der das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von Sanktionen endgültig eingestellt wird, dann nicht als rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Art. 50 GRCh und Art. 54 SDÜ angesehen werden, wenn sie getroffen wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären[11].

Der deutsche Gesetzgeber hat den Grundsatz ne bis in idem für Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen differenzierend geregelt.

Zunächst ist nach § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG, der der Umsetzung von Art. 3 Nr. 2 RbEuHb dient[12], eine Auslieferung unzulässig, wenn der Verfolgte wegen derselben Tat, die dem Ersuchen zugrunde liegt, bereits rechtskräftig in einem anderen Mitgliedstaat abgeurteilt und die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nicht mehr vollstreckt werden kann. Gemäß § 9 Nr. 1 IRG, der nach § 78 Abs. 1 IRG auch im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl gilt, ist eine Auslieferung weiter unzulässig, wenn ein deutsches Gericht oder eine Behörde gegen den Verfolgten wegen der Tat ein Urteil oder eine Entscheidung mit entsprechender Rechtskraft erlassen hat, nach § 204 StPO die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt wurde, gemäß § 174 StPO ein Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage verworfen wurde, das Verfahren gemäß § 153a StPO nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen eingestellt wurde oder nach Jugendstrafrecht von der Verfolgung abgesehen beziehungsweise das Verfahren eingestellt wurde.

Zur Umsetzung von Art. 4 Nr. 3 RbEuHb[13], der sich wiederum an Art. 9 Satz 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens orientiert[14], hat der deutsche Gesetzgeber darüber hinaus für Ermittlungsverfahren und Einstellungsentscheidungen fakultative Bewilligungshindernisse in § 83b IRG geregelt. So kann die Bewilligung nach § 83b Abs. 1 Nr. 1 IRG abgelehnt werden, wenn gegen den Verfolgten wegen derselben Tat ein strafrechtliches Verfahren in Deutschland geführt wird. Nach § 83b Abs. 1 Nr. 2 IRG besteht auch dann ein fakultatives Bewilligungshindernis, wenn wegen derselben Tat die Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens abgelehnt oder ein bereits eingeleitetes Verfahren wieder eingestellt worden ist. Das Bewilligungshindernis nach § 83b Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 IRG umfasst daher vor allem Einstellungen der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2, § 153 Abs. 1 und § 154 StPO[15], Rn. 18)). Der Ablehnungsgrund nach § 83b Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 IRG beruht maßgeblich auf der Erwägung, dass dem Strafverfolgungsinteresse durch das in dem ersuchten Staat eingeleitete Strafverfahren bereits dann genügt wurde, wenn ein solches Verfahren eingestellt wurde, der Verfolgte dementsprechend Vertrauensschutz genießt und vor erneuter Strafverfolgung im ersuchenden Staat geschützt werden soll[16].

Gemessen an diesen Maßstäben verletzen die im vorliegenden Fall angegriffene Vorabentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden[17] und der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden[18] die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 50 GRCh:

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden und das Oberlandesgericht Dresden haben bei der Anwendung von § 83b IRG Bedeutung und Tragweite des Art. 50 GRCh nicht hinreichend beachtet. Mit den auf § 154 Abs. 1 StPO und § 170 Abs. 2 StPO gestützten Verfahrenseinstellungen der Staatsanwaltschaft Chemnitz vom 29.04.2015; und vom 24.04.2018 liegen in der Gesamtschau verfahrensabschließende Einstellungsentscheidungen vor, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dem Doppelbestrafungsverbot gemäß Art. 50 GRCh in Verbindung mit Art. 54 SDÜ unterfallen.

Hinsichtlich eines erheblichen Teils der Taten, derentwegen die tschechischen Behörden um Überstellung der Beschwerdeführerin ersuchen, liegt nicht nur eine Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft Chemnitz nach § 154 Abs. 1 StPO vom 29.04.2015 vor, sondern auch eine Einstellungsentscheidung nach § 170 Abs. 2 StPO vom 24.04.2018 wegen eines Verfolgungshindernisses.

Nach deutschem Recht bewirkt die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO zunächst als solche zwar noch keinen Strafklageverbrauch[19]. Gleichwohl schafft auch die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung für den Beschuldigten regelmäßig eine Vertrauensgrundlage. Ein Beschuldigter und die Allgemeinheit haben ein schutzwürdiges Interesse an dem Bestand und der Verlässlichkeit der von der Staatsanwaltschaft getroffenen Entscheidung. Der Verfahrensabschluss befreit einen Beschuldigten nicht nur von der erheblichen Belastung, die das Strafverfahren mit sich bringt, sondern er dient auch der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Um diesen Interessen umfassend gerecht zu werden, erfordert auch eine Einstellung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach dem Opportunitätsprinzip eine gewisse Beständigkeit. Die Wiederaufnahme eines durch die Staatsanwaltschaft eingestellten Verfahrens darf daher nicht willkürlich, sondern nur bei Vorliegen eines sachlich einleuchtenden Grundes erfolgen, um das Vertrauen des Beschuldigten und der Allgemeinheit in den Bestand des Verfahrensabschlusses nicht zu gefährden[19].

Die Generalstaatsanwaltschaft und das Oberlandesgericht haben nicht hinreichend berücksichtigt, dass schon die auf § 154 Abs. 1 StPO gestützte Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft Chemnitz vom 29.04.2015 verfahrensabschließend sowie begleitend zur Anklageerhebung im Übrigen erfolgt ist. Dieser Einstellungsentscheidung gingen mit der Auswertung von Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen, einer Wohnungsdurchsuchung sowie der wiederholten Vernehmung der Beschwerdeführerin als Beschuldigte eingehende Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden voraus. Damit ist die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor der Verfahrenseinstellung erforderliche Prüfung der Tatvorwürfe in der Sache erfolgt.

Zudem war hier zu berücksichtigen, dass, nachdem das Urteil des Amtsgerichts Chemnitz vom 23.06.2015 rechtskräftig geworden war, auf dessen Urteilsausspruch hin die Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO ursprünglich erfolgt war, die Staatsanwaltschaft Chemnitz – im Rahmen der nach Nr. 101 Abs. 3 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) vorzunehmenden Prüfung, ob es bei der Einstellung verbleiben kann – das Verfahren nicht wiederaufgenommen hat und somit weiterhin davon ausgegangen ist, dass eine zu erwartende Strafe im Vergleich zur bereits ausgeurteilten nicht wesentlich ins Gewicht falle.

Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaft Chemnitz in Bezug auf die Mehrheit der bereits nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellten Taten in der weiteren Folge ausdrücklich das Vorliegen eines sachlichen Grundes zur Wiederaufnahme verneint und in ihrem Einstellungsbescheid vom 24.04.2018 daraus ein Strafverfolgungshindernis abgeleitet hat, was eine neuerliche Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO zur Folge hatte. Spätestens seit dem Vorliegen dieser Einstellungsentscheidung war die von Eurojust im Jahr 2016 abgegebene rechtliche Einschätzung nicht mehr aktuell. Dies gilt auch, soweit in dem Bescheid der Staatsanwaltschaft Chemnitz vom 24.04.2018 ein kleiner Teil der Taten wiederum nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden ist, da nach der Einschätzung der Staatsanwaltschaft auch hinsichtlich dieser Taten eine zu erwartende Strafe im Vergleich zur bereits ausgeurteilten nicht wesentlich ins Gewicht gefallen wäre.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19. Mai 2022 – 2 BvR 1110/21

  1. vgl. EuGH, Urteil vom 05.06.2014, M, – C-398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 35; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 31[]
  2. vgl. EuGH, Urteil vom 09.03.2006, Van Esbroeck, – C-436/04, EU:C:2006:165, Rn. 34; Urteil vom 22.12.2008, Turanský, – C-491/07, EU:C:2008:768, Rn. 44; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 45[]
  3. vgl. EuGH, Urteil vom 22.12.2008, Turanský, – C-491/07, EU:C:2008:768, Rn. 44; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 45[]
  4. vgl. EuGH, Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 46 f.[]
  5. vgl. EuGH, Urteil vom 11.02.2003, Gözütok und Brügge, – C-187/01 und – C-385/01, EU:C:2003:87, Rn. 28 und 38; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 39[]
  6. vgl. EuGH, Urteil vom 11.12.2008, Bourquain, – C-297/07, EU:C:2008:708, Rn. 37; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 50[]
  7. vgl. EuGH, Urteil vom 22.12.2008, Turanský, – C-491/07, EU:C:2008:768, Rn. 35 f.; Urteil vom 05.06.2014, M, – C-398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 32 und 36; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 35[]
  8. vgl. EuGH, Urteil vom 10.03.2005, Miraglia, – C-469/03, EU:C:2005:156, Rn. 30; Urteil vom 05.06.2014, M, – C-398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 42; Urteil vom 16.12.2021, AB u.a., – C-203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 56[]
  9. vgl. EuGH, Urteil vom 06.09.2016, Petruhhin, – C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 36 f.; Urteil vom 02.04.2020, Ruska Federacija, – C-897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 60; Urteil vom 12.05.2021, Bundesrepublik Deutschland [Red Notice, Interpol], – C-505/19, EU:C:2021:376, Rn. 86; Urteil vom 16.12.2021, AB u.a., – C-203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 58[]
  10. vgl. EuGH, Urteil vom 10.03.2005, Miraglia, – C-469/03, EU:C:2005:156, Rn. 33 f.; Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 49[]
  11. vgl. EuGH, Urteil vom 29.06.2016, Kossowski, – C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 54[]
  12. vgl. BT-Drs. 15/1718, S.19[]
  13. vgl. BT-Drs. 15/1718, S. 21[]
  14. vgl. Kommissionsentwurf zum RbEuHb, KOM [2001] 522 endg., Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 27.11.2001, C 332 E/305, S. 305 ff.[]
  15. vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, IRG, 3. Aufl.2021, § 83b Rn. 8; Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl.2020, § 83b IRG Rn. 25; zu § 154 StPO vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 09.07.2018 – (4) 151 AuslA 206/17 ((1/18[]
  16. vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, IRG, 3. Aufl 2021, § 83b Rn. 9 f.; Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl.2020, § 83b IRG Rn. 28[]
  17. GStA Dresden, Bescheid vom 06.05.2020 – 12 Ausl A 209/18[]
  18. OLG Dresden, Beschluss vom 30.03.2021 – OLG AusL 209/18[]
  19. vgl. BGHSt 54, 1 <7> m.w.N.[][]