Ne bis in idem – die EU-Version

Die Behörden eines EU-Mitgliedstaats dürfen einen Drittstaatsangehörigen nicht an einen anderen Drittstaat ausliefern, wenn dieser Drittstaatsangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Taten wie denen, auf die sich das Auslieferungsersuchen bezieht, rechtskräftig verurteilt worden ist und die dort verhängte Strafe verbüßt hat.

Ne bis in idem – die EU-Version

Das ergibt sich für den Gerichtshof der Europäischen Union aus dem Unionsrecht und gilt auch dann, wenn ein von dem ersuchten Mitgliedstaat geschlossener bilateraler Auslieferungsvertrag die Reichweite des Grundsatzes ne bis in idem auf die in dem ersuchten Staat ergangenen Urteile beschränkt.

Diesem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union liegt ein Fall aus Bayern zugrunde: Das Oberlandesgericht München (Deutschland) hat über ein Auslieferungsersuchen zu entscheiden, das von den Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika an die deutschen Behörden gerichtet wurde, um gegen einen serbischen Staatsangehörigen im Wege der Strafverfolgung vorzugehen; dieser wurde daher in Deutschland vorläufig festgenommen. Was die bis Juni 2010 begangenen Straftaten betrifft, war der Betroffene aber bereits in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Slowenien, für dieselben Taten rechtskräftig verurteilt worden. Zudem hat er die dort verhängte Strafe vollständig verbüßt.

Aus diesem Grund stellt sich das Oberlandesgericht München die Frage, ob das Verbot der Doppelbestrafung (Grundsatz ne bis in idem), wie es durch das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verbürgt ist, der Entscheidung, dem Auslieferungsersuchen stattzugeben, entgegensteht. Der bei diesem Gericht insoweit bestehende Zweifel rührt insbesondere daher, dass der zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten geschlossene Auslieferungsvertrag die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nur für den Fall einer Verurteilung im ersuchten Staat, hier Deutschland, vorsieht, und nicht bei einer außerhalb dieses Mitgliedstaats erfolgten Verurteilung. Dies veranlasste das Oberlandesgericht München, diese Rechtsfrage dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

Mit seinem jetzt verkündeten Urteil antwortet der Unionsgerichtshof, dass der durch das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und die Charta verbürgte Grundsatz ne bis in idem der Auslieferung eines Drittstaatsangehörigen an einen anderen Drittstaat durch die Behörden eines Mitgliedstaats entgegensteht, wenn dieser Drittstaatsangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Taten wie denen, auf die sich das Auslieferungsersuchen bezieht, rechtskräftig verurteilt worden ist und die dort verhängte Strafe verbüßt hat. Der Umstand, dass das Auslieferungsersuchen auf einem bilateralen Auslieferungsvertrag beruht, der die Reichweite des Grundsatzes ne bis in idem auf die Urteile beschränkt, die in dem ersuchten Mitgliedstaat ergangen sind, ändert nichts an diesem Ergebnis.

Dabei betont der Unionsgerichtshof, dass der vom Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vorgesehene Grundsatz ne bis in idem im Schengen-Gebiet auch für Drittstaatsangehörige gilt, und zwar unabhängig davon, ob ihr Aufenthalt rechtmäßig war oder nicht. Eine andere Lösung würde im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten die Grundlage des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als Raum ohne Binnengrenzen in Frage stellen sowie gegen die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheidungen in Strafsachen verstoßen, auf denen der durch dieses Übereinkommen verbürgte Grundsatz ne bis in idem beruht.

Hinsichtlich des Umstands, dass der zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten geschlossene Auslieferungsvertrag die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nicht für Urteile vorsieht, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, weist der Gerichtshof der Europäischen Union darauf hin, dass die nationalen Gerichte angesichts der unmittelbaren Wirkung der Bestimmungen der Charta und des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, in denen dieser Grundsatz verankert ist, jede Bestimmung dieses Vertrags, die mit diesem Grundsatz unvereinbar ist, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen müssen.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 28. Oktober 2022 – C -435/22 PPU