Der Begriff der höheren Gewalt, die die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unmöglich macht, erstreckt sich nicht auf die rechtlichen Hindernisse, die sich aus gesetzlichen Klagen ergeben, die die gesuchte Person erhoben hat. Wenn die betreffende Person nicht innerhalb der vorgesehenen Fristen übergeben wurde, ist sie freizulassen.

Dies entscheid jetzt der Gerichtshof der Europäischen Union auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Finnland, dem Europäische Haftbefehle aus Rumänien zugrunde lagen:
Gegen C und CD, zwei rumänische Staatsangehörige, ergingen im Jahr 2015 von der rumänischen Justizbehörde ausgestellte Europäische Haftbefehle zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen von fünf Jahren sowie zusätzlicher Strafen von drei Jahren. Diese Strafen wurden wegen Handels mit gefährlichen und besonders gefährlichen Betäubungsmitteln sowie wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung ausgesprochen.
C und CD waren in Schweden Gegenstand von Verfahren zur Vollstreckung dieser Europäischen Haftbefehle. Mit im Jahr 2020 erlassenen Entscheidungen ordneten die schwedischen Behörden die Übergabe von C und CD an die rumänischen Behörden an. C und CD verließen Schweden jedoch und begaben sich nach Finnland, bevor diese Übergabeentscheidungen durchgeführt werden konnten. Am 15. Dezember 2020 wurden C und CD in Finnland auf der Grundlage der fraglichen Europäischen Haftbefehle festgenommen und inhaftiert.
Mit Entscheidungen vom 16. April 2021 ordnete der Oberste Gerichtshof Finnlands ihre Übergabe an die rumänischen Behörden an. Das Nationale Amt der Kriminalpolizei setzte ein erstes Übergabedatum auf den 7. Mai 2021 fest. Vor diesem Datum ließ sich die Flugbeförderung von C und CD nach Rumänien aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht organisieren. Ein zweites Übergabedatum wurde auf den 11. Juni 2021 festgesetzt. Auch diese Übergabe wurde jedoch aufgrund von mit der Flugbeförderung zusammenhängenden Problemen noch einmal verschoben. Ein drittes Übergabedatum wurde für CD auf den 17. Juni 2021 und für C auf den 22. Juni 2021 festgesetzt. Allerdings war es wieder unmöglich, die Übergabe durchzuführen, dieses Mal deshalb, weil C und CD Anträge auf internationalen Schutz in Finnland stellten.
C und CD erhoben daraufhin Klage und beantragten zum einen, sie freizulassen, da die Frist für die Übergabe abgelaufen sei, und zum anderen, ihre Übergabe aufgrund ihrer Anträge auf internationalen Schutz aufzuschieben. Diese Klagen wurden für unzulässig erklärt. Das Ausgangsverfahren betrifft die Rechtsmittel, die C und CD gegen diese Entscheidungen beim Obersten Gerichtshof eingelegt haben.
Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten legt die Regeln fest, die für die Übergabe von aufgrund eines Europäischen Haftbefehls gesuchten Personen gelten, sobald die endgültige Entscheidung, diese Personen zu übergeben, von den zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats erlassen wurde. Wird die gesuchte Person nicht innerhalb einer sehr kurzen Frist übergeben, so ist sie nach Art. 23 Abs. 5 freizulassen. Ist die Übergabe aufgrund eines Falles von höherer Gewalt nicht möglich, kann diese Frist nach Art. 23 Abs. 3 verlängert werden, vorausgesetzt, dass die vollstreckende Justizbehörde und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich einen neuen Termin für die Übergabe vereinbaren.
Das vorlegende Gericht möchte zunächst wissen, ob der Begriff höhere Gewalt sich auf rechtliche Hindernisse der Übergabe erstreckt, die sich aus von der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, erhobenen und auf das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats gestützten gesetzlichen Klagen ergeben, wenn die endgültige Entscheidung über die Übergabe von der vollstreckenden Justizbehörde erlassen wurde.
In seinem jetzt verkündeten Urteil bestätigt der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Erhebung gesetzlicher Klagen durch die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Rahmen von Verfahren, die im nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgesehen sind, die darauf gerichtet sind, die Übergabe dieser Person an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats anzufechten, oder zur Folge haben, dass diese Übergabe aufgeschoben wird, nicht als ein unvorhersehbares Ereignis angesehen werden kann. Folglich können solche rechtlichen Hindernisse der Übergabe, die sich aus von dieser Person erhobenen gesetzlichen Klagen ergeben, nicht den Tatbestand eines Falles höherer Gewalt erfüllen.
Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass die in Art. 23 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Übergabefristen aufgrund von im Vollstreckungsmitgliedstaat anhängigen Verfahren, die von der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, eingeleitet wurden, ausgesetzt sind, wenn die endgültige Entscheidung über die Übergabe von der vollstreckenden Justizbehörde erlassen wurde. Daher bleiben die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats grundsätzlich dazu verpflichtet, diese Person den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats innerhalb der festgesetzten Fristen zu übergeben.
Das vorlegende Gericht möchte sodann zum einen wissen, ob das Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde erfüllt ist, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat einer Polizeibehörde die Aufgabe überträgt, zu überprüfen, ob ein Fall von höherer Gewalt vorliegt und ob die für die Fortdauer der Haft der betreffenden Person erforderlichen Voraussetzungen eingehalten sind, vorausgesetzt, dass diese Person das Recht hat, jederzeit die vollstreckende Justizbehörde anzurufen, damit diese über die vorgenannten Elemente entscheidet. Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die in Art. 23 genannten Fristen als abgelaufen anzusehen sind und die betreffende Person somit freizulassen ist, sofern davon auszugehen ist, dass dem Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde nicht nachgekommen worden ist.
Der Unionsgerichtshof stellt zunächst fest, dass das in Art. 23 des Rahmenbeschlusses verlangte Tätigwerden der vollstreckenden Justizbehörde dahin, zu prüfen ob ein Fall höherer Gewalt vorliegt, und gegebenenfalls ein neues Übergabedatum festzulegen, nicht einer Polizeibehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats – wie im Ausgangsverfahren dem Nationalen Amt der Kriminalpolizei – übertragen werden darf. Die Feststellung eines Falles höherer Gewalt durch die Polizeibehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats sowie die Festlegung eines neuen Übergabedatums, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde tätig wird, genügen nicht den förmlichen Anforderungen, die in Art. 23 des Rahmenbeschlusses vorgesehen sind, und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich ein Fall höherer Gewalt vorliegt.
Folglich können die in Art. 23 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen in Ermangelung eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde nicht wirksam verlängert werden, so dass diese Fristen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens als abgelaufen anzusehen sind.
Der Gerichtshof der Europäischen Union weist sodann darauf hin, dass aus dem Wortlaut von Wortlaut von Art. 23 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich hervorgeht, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, sofern sie sich noch immer in Haft befindet, freizulassen ist, wenn diese Fristen abgelaufen sind. In einem solchen Fall ist keine Ausnahme von dieser Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgesehen. Angesichts der Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats, das Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls fortzusetzen, ist die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats im Fall einer Freilassung der Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen ist, verpflichtet, mit Ausnahme von freiheitsentziehenden Maßnahmen jedwede Maßnahme zu ergreifen, die sie für erforderlich hält, um eine Flucht der betreffenden Person zu verhindern.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 28. April 2022 – C -804/21 PPU