Das letztinstanzliche Gericht verletzt das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, indem es von einem gebotenen Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 234 Abs. 3 EG absieht. Mit dieser Begründung hob jetzt das Bundesverfassungsgericht ein Urteil des Bundesarbeitsgericht auf, mit dem dieses eine arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzklage abgewiesen hatte.

Der EuGH als gesetzlicher Richter[↑]
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es stellt einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG nicht nachkommt1. Das Bundesverfassungsgericht wird durch die grundrechtsgleiche Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden einem Gericht unterlaufenen Verfahrensfehler korrigieren müsste. Es beanstandet vielmehr die Auslegung und Anwendung von Verfahrensnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind2.
Vorlagepflicht für das letztinstanzliche Gericht[↑]
Hinsichtlich der Vorlagepflicht nach Art. 234 EG wurde dieser Maßstab vom Bundesverfassungsgericht durch bestimmte beispielhafte Fallgruppen näher präzisiert3.
Die Vorlagepflicht nach Art. 234 EG zur Klärung der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der — seiner Auffassung nach bestehenden — Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht)4. Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft)5.
Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind6. In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des europäischen Rechts ausreichend kundig gemacht hat. Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zudem hat das Gericht Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen7.
Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Dabei kommt es für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Gemeinschaftsrechts — hier etwa der Massenentlassungsrichtlinie (MERL)8 — an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 234 Abs. 3 EG, die den gesetzlichen Richter im Streitfall bestimmt. Die Vertretbarkeit des Unterlassens eines Vorabentscheidungsersuchens muss daher im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 234 Abs. 3 EG gesehen werden.
Hiernach muss ein Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in dem bei ihm anhängigen Verfahren eine entscheidungserhebliche Frage des Gemeinschaftsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die betreffende Bestimmung des Gemeinschaftsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung des Gerichtshofs war oder dass die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt9. Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur dann ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen10. Denn Art. 234 Abs. 3 EG soll insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Gemeinschaftsrechts nicht im Einklang steht11.
Absehen von der Vorlage[↑]
Bezogen auf diese für die Anwendung des Art. 234 Abs. 3 EG maßgeblichen Grundsätze wird ein letztinstanzliches nationales Gericht, das von einem Vorabentscheidungsersuchen absieht, dem Recht der Prozessparteien auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in der Regel nur dann gerecht, wenn es nach Auswertung der entscheidungserheblichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts eine vertretbare Begründung dafür gibt, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bereits entschieden ist oder dass die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage offenkundig ist. Die gemeinschaftsrechtliche Rechtsfrage wird hingegen nicht zumindest vertretbar beantwortet, wenn das nationale Gericht eine eigene Lösung entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zurückgeführt werden kann und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspricht. Dann erscheint die fachgerichtliche Rechtsanwendung des Art. 234 Abs. 3 EG nicht mehr verständlich und ist offensichtlich unhaltbar12.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Bundesarbeitsgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, indem es von einem Vorabentscheidungsersuchen wegen der im Zusammenhang mit der Massenentlassungsanzeige zu klärenden Fragen abgesehen hat.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. Februar 2010 — 1 BvR 230/09
- vgl. BVerfGE 73, 339, 366 f.; 82, 159, 192 ff.; stRspr [↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 194; BVerfGK 8, 401, 404 [↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 195; BVerfGK 10, 19, 29 f. [↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 195 [↩]
- vgl. BVerfGE 75, 223, 245; 82, 159, 195 [↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 195 f.; BVerfGK 10, 19, 29 [↩]
- vgl. BVerfGK 8, 401, 405; 10, 19, 31; BVerfG, Beschluss vom 20.02.2008 — 1 BvR 2722/06, NVwZ 2008, S. 780, 780 f.; Beschluss vom 09.01.2001 — 1 BvR 1036/99 [↩]
- Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. EG Nr. L 225 vom 12. August 1998, S. 16 — Massenentlassungsrichtlinie (MERL) [↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982 — C-283/81, Slg. 1982, S. 03415; Urteil vom 15.09.2005 — C‑495/03; Urteil vom 06.12.2005 — C‑461/03; stRspr [↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982 — C-283/81, Slg. 1982, S. 03415 [↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 15.09.2005 — C‑495/03 [↩]
- vgl. zu diesem Maßstab BVerfGK 10, 19, 29 [↩]