Kontrollen an den EU-Binnengrenzen?

Eine Binnengrenze eines EU-Mitgliedstaats, an der Kontrollen wieder eingeführt wurden, kann nach einem aktuellen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union einer Außengrenze im Sinne der Rückführungsrichtlinie nicht gleichgestellt werden.

Kontrollen an den EU-Binnengrenzen?

Dieser Entscheidung des Unionsgerichtshofs lag ein Fall aus Frankreich zugrunde: Herr Abdelaziz Arib, ein marokkanischer Staatsangehöriger, wurde in Frankreich in der Nähe der Grenze zu Spanien in einem aus Marokko kommenden Reisebus kontrolliert. Zuvor war gegen ihn in Frankreich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verhängt worden. Er wurde wegen des Verdachts der illegalen Einreise nach Frankreich in Gewahrsam genommen, und der Präfekt des Departements Pyrénées-Orientales erließ gegen ihn eine Verfügung, mit der ihm aufgegeben wurde, Frankreich zu verlassen, und ordnete seine Unterbringung in Abschiebehaft an. Die Ingewahrsamnahme wurde vom Tribunal de grande instance de Perpignan (Landgericht Perpignan) für nichtig erklärt. Die Cour d’appel de Montpellier (Berufungsgericht Montpellier) bestätigte die Entscheidung, woraufhin der Präfekt eine Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) einlegte.

Der Grundsatz der Freizügigkeit im Schengen-Raum führt zum Wegfall der Kontrollen von Personen, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten überschreiten. Die fragliche Kontrolle wurde im Juni 2016 vorgenommen, als in Frankreich vorübergehend Kontrollen an den Binnengrenzen wieder eingeführt worden waren. Zu dieser Zeit galt in Frankreich der Ausnahmezustand, und die Kontrollen an den Binnengrenzen waren im Einklang mit den Bestimmungen der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen[1] (Schengener Grenzkodex) angesichts der ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit wieder eingeführt worden.

In diesem Zusammenhang stellt die Cour de cassation fest, dass die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger[2] (Rückführungsrichtlinie) u. a. den Mitgliedstaaten erlaube, das darin für Drittstaatsangehörige vorgesehene Rückführungsverfahren nicht anzuwenden, wenn sie einem Einreiseverbot unterlägen oder in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats aufgegriffen oder abgefangen würden und nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten hätten, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.

Die vorlegende Cour de cassation möchte nunmehr vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob eine Binnengrenze, an der eine Kontrolle wieder eingeführt wurde, für die Zwecke dieser Richtlinie einer Außengrenze gleichgestellt werden kann und ob daher Frankreich beschließen kann, in Bezug auf Herrn Arib das in der Rückführungsrichtlinie vorgesehene Verfahren nicht anzuwenden.

Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht aber auch über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache sodann im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

In seinem jetzt verkündeten Urteil weist der Unionsgerichtshof zunächst darauf hin, dass Herrn Arib, einem marokkanischen Staatsangehörigen, nicht die Einreise in das französische Hoheitsgebiet verweigert wurde, sondern er von den französischen Behörden in unmittelbarer Nähe der französischspanischen Grenze nach der Wiedereinführung von Kontrollen an dieser Grenze gemäß Art. 25 des Schengener Grenzkodex kontrolliert und anschließend in Polizeigewahrsam genommen wurde, da der Verdacht des Vergehens der illegalen Einreise in das französische Hoheitsgebiet bestand.

Es ist daher zu bestimmen, ob ein Drittstaatsangehöriger, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist und der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze dieses Mitgliedstaats aufgegriffen wurde, unter die vorgesehene Ausnahme von der Anwendung der Rückführungsrichtlinie fällt, wenn der betreffende Mitgliedstaat nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex Kontrollen an dieser Grenze wieder eingeführt hat.

Der Unionsgerichtshof weist darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung die Rückführungsrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige nur wegen ihrer illegalen Einreise über eine Binnengrenze vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszunehmen. An dieser Einschätzung kann sich auch nichts dadurch ändern, dass ein Mitgliedstaat an den Binnengrenzen Kontrollen wieder eingeführt hat. Insoweit braucht im Hinblick auf den von der Rückführungsrichtlinie angestrebten Zweck, was die Situation eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird, betrifft, nicht danach unterschieden zu werden, ob an dieser Grenze Kontrollen wieder eingeführt wurden oder nicht.

Sodann ergibt sich aus dem Schengener Grenzkodex, dass eine Binnengrenze, an der von einem Mitgliedstaat Kontrollen wieder eingeführt wurden, nicht mit einer Außengrenze im Sinne dieses Kodex gleichbedeutend ist. Nach dem Schengener Grenzkodex schließen nämlich die Begriffe „Binnengrenzen“ und „Außengrenzen“ einander aus. Der Kodex sieht lediglich vor, dass bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat nur die einschlägigen Bestimmungen dieses Kodex über die Außengrenzen entsprechend Anwendung finden. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist daher der Auffassung, dass bereits der Wortlaut des Schengener Grenzkodex dem entgegensteht, dass eine Binnengrenze, an der Kontrollen wieder eingeführt wurden, einer Außengrenze gleichgestellt wird.

Der Unionsgerichtshof befindet daher, dass die Ausnahme von der Anwendung des in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen Rückführungsverfahrens nicht den Fall eines Drittstaatsangehörigen betrifft, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird und der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist, auch wenn dieser Mitgliedstaat wegen einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wieder eingeführt hat.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 19. März 2019 – C -444/17

  1. ABl. 2016, L 77, S. 1, Berichtigung ABl. 2018, L 272, S. 69[]
  2. ABl. 2008, L 348, S. 98[]

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