Es verstößt gegen europäisches Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische oder eine fakultative Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird. Bei einer nicht auf Unionsrecht beruhenden nationalen Energiesteuerbegünstigung steht dagegen das Unionsrecht einer Verweigerung der Steuerbegünstigung aufgrund der Verletzung formeller Anforderungen nicht entgegen.

Einem tatsächlichen Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein oder Rechtsbindungswillen werden die Wirkungen einer Willenserklärung nur zum Schutz des redlichen Rechtsverkehrs beigelegt. Es kommt daher keine Auslegung in Betracht, wenn der Handelnde keinen Erklärungswillen hat und der Empfänger dies auch erkennt.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall war strittig, ob der Unternehmerin Energiesteuerentlastungen für die Monate August bis November 2010 zustehen. Die Unternehmerin reichte über Jahre hinweg regelmäßig monatliche Steueranmeldungen nach dem Energiesteuergesetz in der für die streitgegenständlichen Zeiträume geltenden Fassung (EnergieStG) beim Hauptzollamt ein und beantragte gleichzeitig monatliche Steuerentlastungen nach §§ 51, 53 und 54 EnergieStG. Die Schreiben versandte die Unternehmerin mit einfachem Brief. Das Hauptzollamt erteilte über die Entlastungsanträge keine schriftlichen Steuerbescheide, sondern überwies die Entlastungen direkt auf das stets gleiche Bankkonto der Unternehmerin. Ein Eingang der Entlastungsanträge für die Monate August bis November 2010 konnte beim Hauptzollamt nicht festgestellt werden; infolgedessen erstattete dieses der Unternehmerin die betreffenden Entlastungsbeträge nicht.
Im Rahmen einer Außenprüfung übergab die Unternehmerin circa Mitte des Jahres 2011 den Außenprüfern einen Ordner „Steueranmeldung 2010 für Zollprüfung“, in welchem die vollständigen Steueranmeldungen und Steuerentlastungsanträge des Kalenderjahres 2010 monatlich geordnet und durch Trennblätter sortiert in Kopie abgeheftet waren. Nachdem der Außenprüfer die Unternehmerin am 27.04.2012 darüber informiert hatte, dass deren Entlastungsanträge für die streitgegenständlichen Monate nicht im Original beim Hauptzollamt eingegangen seien, stellte diese mit Schreiben vom 07.05.2012 neue Entlastungsanträge und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO. Das Hauptzollamt lehnte diese Entlastungsanträge und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hatte die Klage vor dem Finanzgericht Hamburg Erfolg. Das Finanzgericht sah die Übergabe des Ordners „Steueranmeldung 2010 für Zollprüfung“ mit den darin enthaltenden Kopien der Entlastungsanträge als form- und fristgerechte Antragstellung an[1]. Auf die vom Bundesfinanzhof zugelassene Revision des Hauptzollamtes hat der Bundesfinanzhof zunächst ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet[2], das dieser wie folgt beantwortet hat:
Der Effektivitätsgrundsatz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sind wie folgt auszulegen:
Im Rahmen der Umsetzung einer Bestimmung wie Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27.10.2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom, wonach die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen gestaffelte Steuersätze anwenden können, bei denen zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung der von dieser Richtlinie erfassten Energieerzeugnisse bzw. von elektrischem Strom unterschieden wird, stehen diese Grundsätze einer nationalen Regelung entgegen, nach der die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf Steuerentlastung, der innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer gestellt wurde, automatisch und ausnahmslos ablehnen müssen, allein weil der Antragsteller die im nationalen Recht für eine solche Antragstellung festgelegte Frist nicht eingehalten hat.
In Umsetzung dieser Vorabentscheidung des Unionsgerichtshofs hat der Bundesfinanzhof das finanzgerichtliche Urteil insoweit aufgehoben, als der Entlastungsanspruch nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d des Energiesteuergesetzes betroffen ist, und die Klage insoweit abgewiesen. Im Übrigen hat der Bundesfinanzhof die Revision nach § 126 Abs. 4 FGO zurückgewiesen. Denn das Finanzgericht hat zwar zu Unrecht angenommen, dass die Unternehmerin fristgerechte Anträge auf Steuerentlastung nach §§ 51, 53 und 54 EnergieStG gestellt hat. Aber es hat im Ergebnis zu Recht der Klage bezüglich der Entlastungsanträge nach §§ 53 und 54 EnergieStG stattgegeben, weil die unionsrechtlichen Grundsätze der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit einer Versagung der Steuerentlastung entgegenstehen, die allein auf einen verspäteten Antrag gestützt wird.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Unternehmerin in den streitgegenständlichen Zeiträumen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Energiesteuerentlastung -soweit nicht die Antragstellung betroffen ist- erfüllt hat.
Die Unternehmerin hat keine fristgerechten Anträge auf Energiesteuerentlastung nach §§ 51, 53 und 54 EnergieStG gestellt.
Gemäß § 95 Abs. 1 der Energiesteuer-Durchführungsverordnung in der für die streitgegenständlichen Zeiträume geltenden Fassung (EnergieStV) ist die Steuerentlastung nach § 51 EnergieStG bei dem für den Antragsteller zuständigen Hauptzollamt mit einer Anmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck für alle Energieerzeugnisse zu beantragen, die innerhalb eines Entlastungsabschnitts verwendet worden sind. Der Antragsteller hat in der Anmeldung alle für die Bemessung der Steuerentlastung erforderlichen Angaben zu machen und die Steuerentlastung selbst zu berechnen. Die Steuerentlastung wird nur gewährt, wenn der Antrag spätestens bis zum 31.12. des Jahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem der Steuerentlastungsanspruch entstanden ist, beim Hauptzollamt gestellt wird.
Inhaltlich identische Tatbestandsvoraussetzungen enthalten § 98 Abs. 1 EnergieStV für die Steuerentlastung nach § 53 EnergieStG und § 100 Abs. 1 EnergieStV für die Steuerentlastung nach § 54 EnergieStG.
Nach den bindenden Feststellungen des Finanzgerichts sind bis zum 31.12.2011 Urschriften der Anträge nicht nachweislich beim Hauptzollamt eingegangen. Auch in der Übergabe des Ordners „Steueranmeldung 2010 für Zollprüfung“ an das Hauptzollamt durch die Unternehmerin im Sommer 2011 im Rahmen der Außenprüfung liegt keine Antragstellung.
Anträge auf Energiesteuerentlastung nach §§ 51, 53 und 54 EnergieStG i.V.m. §§ 95, 98 und 100 EnergieStV sind empfangsbedürftige Willenserklärungen nach § 130 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BGB, die entsprechend §§ 133, 157 BGB auszulegen sind. Maßgeblich ist, wie die Erklärung vom Empfänger nach ihrem objektiven Erklärungswert verstanden werden musste[3]. Hierbei kann gegebenenfalls auch auf Umstände zurückgegriffen werden, die außerhalb der auszulegenden Erklärung liegen und einen Rückschluss auf den vom Antragsteller erklärten Willen erlauben. Es können jedoch nur solche Umstände berücksichtigt werden, die für den Empfänger im Zeitpunkt des Zugangs der Erklärung erkennbar waren[4]. Die Erklärung muss auslegungsbedürftig sein, woran es fehlt, wenn sie nach dem Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hat[5]. § 133 BGB gibt eine Auslegung vor, die den mit der Erklärung angestrebten Erfolg herbeiführt und die Erklärung nicht sinnlos macht. Dies gilt insbesondere für die Ermittlung des Inhalts von Erklärungen Privater gegenüber Behörden. Diese dürfen bei der Auslegung die erkennbare Interessenlage des Erklärenden nicht außer Acht lassen[6].
Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das Finanzgericht festgestellt, dass die Übergabe des maßgeblichen Ordners im Rahmen der Außenprüfung eine erneute Antragstellung für den Fall des Nichteingangs der Originalanträge war. An diese Feststellungen ist der Bundesfinanzhof jedoch nicht nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden.
Zwar gehört die Auslegung von Verträgen und Willenserklärungen zum Bereich der tatsächlichen Feststellungen und bindet den Bundesfinanzhof gemäß § 118 Abs. 2 FGO, wenn sie den Grundsätzen der §§ 133, 157 BGB entspricht und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt, das heißt jedenfalls möglich ist. Das Revisionsgericht prüft somit lediglich, ob das Finanzgericht die gesetzlichen Auslegungsregeln sowie die Denkgesetze und Erfahrungssätze beachtet und die für die Vertragsauslegung bedeutsamen Begleitumstände erforscht und rechtlich zutreffend gewürdigt hat[7].
Im Streitfall hat das Finanzgericht aber gegen die gesetzlichen Auslegungsregeln verstoßen. Bei der Übergabe des Ordners handelt es sich nicht um eine Willenserklärung, sondern lediglich um eine Mitwirkungshandlung der Unternehmerin im Rahmen der Außenprüfung nach § 200 Abs. 1 AO.
Die Unternehmerin ging bei Übergabe des fraglichen Ordners davon aus, dass die Originalanträge bereits beim Hauptzollamt eingegangen waren, und wollte zu diesem Zeitpunkt keinen Antrag stellen. Sie hatte folglich keinen Erklärungswillen; dies hat das Hauptzollamt auch so erkannt.
Soweit das Finanzgericht ausführt, ein Entlastungsantrag sei als empfangsbedürftige Verfahrenserklärung gegenüber der zuständigen Zollbehörde erforderlichenfalls entsprechend §§ 133, 157 BGB auszulegen, und hierfür sei entscheidend, wie das Zollamt als Erklärungsempfänger den Antrag nach seinem objektiven Erklärungswert habe verstehen müssen, übersieht es, dass keine Auslegung in Betracht kommt, wenn der Handelnde keinen Erklärungswillen hat und der Empfänger -also hier der Außenprüfer- dies auch erkennt. Einem tatsächlichen Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein oder Rechtsbindungswillen können die Wirkungen einer Willenserklärung nämlich nur dann beigelegt werden, wenn -zum Schutz des redlichen Rechtsverkehrs- ein Zurechnungsgrund vorhanden ist. Ein solcher ist nur gegeben, wenn der sich in missverständlicher Weise Verhaltende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, dass die in seinem Verhalten liegende Äußerung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte als Willenserklärung aufgefasst werden durfte, und wenn der Empfänger sie auch tatsächlich so verstanden hat[8]. Danach kommt eine Auslegung nach dem objektiven Erklärungswert nur in Betracht, wenn die beteiligten Parteien sich nicht inhaltlich verstanden haben (vgl. demgegenüber die Grundsätze der „falsa demonstratio non nocet“ bei einer Falschbezeichnung des übereinstimmend Gewollten)[9]. Nach diesen Grundsätzen ist die Übergabe des Ordners nicht auslegungsfähig. Denn die Unternehmerin hatte in diesem Moment kein Erklärungsbewusstsein -ihr waren die fehlenden Anträge zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt und sie wollte durch die Übergabe des Ordners mit den darin enthaltenen Antragskopien offensichtlich ihrer Mitwirkungspflicht im Rahmen der Außenprüfung nachkommen- und auch der Außenprüfer hat in der Übergabe keine Antragstellung, sondern eine bloße Mitwirkungshandlung gesehen.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO kommt nicht in Betracht, weil die Unternehmerin ein Verschulden an der Fristversäumung trifft.
Nach § 110 Abs. 1 AO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Steuerpflichtige ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist gehindert war.
Zwar kommt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs eine Wiedereinsetzung in eine abgelaufene Festsetzungsfrist nicht in Betracht, weil der Entlastungsanspruch gemäß § 47 AO erloschen ist[10]. Im Streitfall war die Festsetzungsfrist wegen der laufenden Außenprüfung bei Eingang der neuen Entlastungsanträge vom 07.05.2012 aber noch nicht abgelaufen.
Gemäß § 155 Abs. 4 AO (seit dem 01.01.2017: § 155 Abs. 5 AO) sind die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften auf die Festsetzung von Steuervergütungen sinngemäß anzuwenden. Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO sind eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Diese beträgt für Verbrauchsteuern und Verbrauchsteuervergütungen ein Jahr (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO). Im Streitfall begann die Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres, für das die Unternehmerin die Steuervergütungen begehrt und in dem die Vergütungsansprüche durch Verwendung der Energieerzeugnisse entstanden sind. Die abweichende Regelung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 170 Satz 2 AO ist nicht anzuwenden, weil es in das Belieben des Entlastungsberechtigten gestellt ist, ob er die Steuerbegünstigung in Anspruch nehmen will und er somit nicht zur Abgabe einer Steueranmeldung verpflichtet ist[11].
Folglich begann im Streitfall die Festsetzungsfrist für das Kalenderjahr 2010 mit Ablauf des 31.12.2010 und hätte mit Ablauf des 31.12.2011 geendet. Sie war allerdings nach § 171 Abs. 4 AO gehemmt, weil vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit der Außenprüfung begonnen worden war und die aufgrund dieser Außenprüfung ergangenen Bescheide noch nicht unanfechtbar geworden beziehungsweise nach Bekanntgabe der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO drei Monate nicht verstrichen waren.
Der Bundesfinanzhof lässt dahinstehen, ob die Fristen in § 95 Abs. 1, § 98 Abs. 1 und § 100 Abs. 1 EnergieStV wiedereinsetzungsfähig sind.
Denn die Unternehmerin hat die Frist jedenfalls nicht unverschuldet versäumt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs handelt schuldhaft im Sinne des § 110 AO, wer die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt nicht beachtet[12]. Einfache Fahrlässigkeit reicht aus.
Der Steuerpflichtige muss sich vergewissern, dass er alles Erforderliche getan hat, um seinen Antrag rechtzeitig zu stellen[13].
Unter Anwendung dieser Grundsätze hätte die Unternehmerin substantiiert vortragen müssen, dass sie die Versäumung der Antragsfrist nicht verschuldet hat. Zwar trifft die Unternehmerin keine in Rechtsvorschriften normierte Überwachungspflicht hinsichtlich der Zahlungseingänge; dies entbindet sie jedoch nicht von der Sorgfalt in ihren eigenen Angelegenheiten. Mit einer innerbetrieblichen Kontrolle der Zahlungseingänge hätte ihr auffallen können, dass die streitgegenständlichen Entlastungsanträge durch das Hauptzollamt nicht bearbeitet worden waren. Ein funktionierendes System zur Überprüfung der Zahlungseingänge hatte die Unternehmerin nach Aktenlage jedoch erst später. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass sie eine Kontrolle zuvor als nicht erforderlich ansah. Weder hat jedenfalls die Unternehmerin Umstände vorgetragen, die sie insoweit entlasten könnten, noch hat das Finanzgericht -trotz umfangreicher Ermittlungen und Beweisaufnahmen- Feststellungen getroffen, dass die Unternehmerin kein Verschulden an der Fristversäumung trifft. Auch aus dem finanzgerichtlichen Protokoll der mündlichen Verhandlung ergeben sich keine entsprechenden Anhaltspunkte.
Die Versäumung der oben genannten Antragsfristen steht den begehrten Entlastungsansprüchen nach §§ 53 und 54 EnergieStG, mit deren Normierung der Gesetzgeber die Vorgaben der Energiesteuerrichtlinie umgesetzt hat, jedoch wegen des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht entgegen. Der Entlastungsanspruch nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG beruht indessen nicht auf Unionsrecht, weswegen auch kein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegen kann.
Bei der Ausübung ihrer Befugnisse müssen die Mitgliedstaaten die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit gehören[14]. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen Maßnahmen, welche die Mitgliedstaaten erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist[15].
Nach der Rechtsprechung des EuGH[16] verstößt es gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird. Denn die nationalen Regelungen dürfen nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um eine korrekte und einfache Anwendung solcher Befreiungen sicherzustellen und Steuerhinterziehung und -vermeidung oder Missbrauch zu verhindern[17].
Wie der EuGH mit seinem Urteil „Shell Deutschland Oil“[18] entschieden hat, gelten die dargestellten Grundsätze auch für fakultative Steuerbegünstigungen. Der Wirtschaftsteilnehmer, der aufgrund einer Bestimmung des nationalen Rechts, die von einer solchen Möglichkeit Gebrauch macht, einem ermäßigten Satz der betreffenden Steuer unterliegt, dürfe in einer Situation, die mit derjenigen der Wirtschaftsteilnehmer vergleichbar ist, die nach einer zwingenden Bestimmung der Energiesteuerrichtlinie dem normalen Satz dieser Steuer unterliegen, gemäß dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht anders behandelt werden als letztere Wirtschaftsteilnehmer, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist[19]. Der EuGH hat in seiner Entscheidung zudem den Unterschied zwischen der Antragsfrist und der Festsetzungsfrist betont. Unter Anerkennung der Festsetzungsfrist führt er aus, dass nicht ersichtlich sei, dass die Zulassung eines Antrags auf Steuerbefreiung oder -ermäßigung, der nach Ablauf der Frist für die Stellung eines solchen Antrags, aber innerhalb der Frist für die Festsetzung der fraglichen Steuer gestellt wurde, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar wäre, und unter Berücksichtigung der Systematik und des Zwecks der Energiesteuerrichtlinie, die auf dem Grundsatz beruhe, dass Energieerzeugnisse nach ihrer tatsächlichen Verwendung besteuert werden, stehe der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Versagung des Entlastungsanspruchs entgegen, wenn an der tatsächlichen Verwendung der Energieerzeugnisse kein Zweifel bestehe[20].
Nach den vom EuGH entwickelten Grundsätzen hat die Unternehmerin im Streitfall -trotz Versäumung der Antragsfristen- einen Anspruch auf die durch § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG und § 54 Abs. 1 EnergieStG gewährten Steuerentlastungen. Auf die Unterscheidung zwischen obligatorischen und fakultativen Steuerbegünstigungen kommt es insoweit nicht an.
Der Einwand des Hauptzollamtes, dies verstieße gegen den Neutralitätsgrundsatz, verfängt nicht. Dieser mit dem Vorsteuerabzug im Umsatzsteuerrecht im Zusammenhang stehende Grundsatz, nach dem die Umsatzsteuer für den Unternehmer neutral sein soll[21], greift bei einer Steuerentlastung von Verbrauchsteuern nicht ein, weil ein Vorsteuerabzug bei den Verbrauchsteuern nicht vorgesehen ist. Bei der Entlastung von der Energiesteuer handelt es sich dementsprechend nicht um einen Anspruch, der jedem Energieerzeugnisse verwendenden Unternehmen zusteht. Vielmehr werden die Entlastungstatbestände an eine bestimmte Verwendung der Energieerzeugnisse geknüpft und zudem eng ausgelegt, sodass es sich folglich bei der Energiesteuer grundsätzlich nicht um eine für den Verwender neutrale Steuer handelt. Maßgeblich für die Entlastung ist die tatsächliche Verwendung der Energieerzeugnisse. Dementsprechend äußerte sich der EuGH weder im Urteil „Petrotel-Lukoil“[22] noch im Urteil „Turbogás“[23] zu einem möglichen Verschulden des Energieverwenders hinsichtlich eines spät gestellten Antrags. Denn darauf kam es nicht an.
Zudem war bei dem vom Hauptzollamt für die Anwendung des Neutralitätsgrundsatzes als Beispielsentscheidung angeführten EuGH-Urteil „Staatssecretaris van Financiën (Forclusion du droit à déduction)“[24] die maßgebliche (Berichtigungs-)Frist tatsächlich abgelaufen, sodass der Steuerpflichtige, der einen Vorsteuerabzug nach Ablauf dieser Frist begehrte, das Abzugsrecht bereits verloren hatte. Es ging dort also nicht darum, dass dem Antragsteller etwas genommen werden sollte, was ihm nach nationaler Rechtslage zugestanden hätte. Dahingehend argumentiert aber das Hauptzollamt mit dem Einwand der Neutralität. Denn im vorliegenden Streitfall waren die Ansprüche auf die Steuerentlastungen nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG und nach § 54 Abs. 1 EnergieStG -wie unter II. 3.a ausgeführt- noch nicht nach § 47 AO erloschen; die Festsetzungsfrist war noch nicht abgelaufen.
Die Versäumung der Antragsfrist nach § 95 Abs. 1 Satz 3 EnergieStV führt hingegen zu einem Ausschluss des Entlastungsanspruchs aus § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG.
§ 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG beruht nicht auf dem Unionsrecht. Denn Art. 2 Abs. 4 EnergieStRL nimmt unter anderem Energieerzeugnisse mit zweierlei Verwendungszweck vom Geltungsbereich der Richtlinie aus. Es steht den Mitgliedstaaten somit frei, ob sie diese Verwendungen der Besteuerung unterwerfen oder nicht[25]. Die nationale Regelung in § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG setzt nicht die Bestimmungen der Energiesteuerrichtlinie um, sodass kein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegen kann[26]. Dabei ist zu bedenken, dass der EuGH in seinem Urteil Shell Deutschland Oil vom 22.12.2022 – C-553/21, EU:C:2022:1030 ausdrücklich neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch auf den Effektivitätsgrundsatz abgestellt hat, der verlangt, dass dem Unionsrecht Geltung zu verschaffen ist und dessen Durchsetzung nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf. Somit kommt es nach der Rechtsprechung des EuGH eben nicht nur auf die Verhältnismäßigkeit an. Bei der Entlastungsregel des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG geht es jedoch -wie gesehen- nicht um eine Norm des Unionsrechts, der zur Geltung verholfen werden soll, sondern um eine nationale Vorschrift.
Zudem ist hinsichtlich des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG auch der nationale Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt.
Eine staatliche Maßnahme ist danach verhältnismäßig, wenn sie im Hinblick auf den verfolgten Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist[27]. Die Proportionalität setzt voraus, dass Beeinträchtigungen nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen, dass sie bei einer Gesamtbewertung angemessen und deshalb für den Betroffenen zumutbar sind[28]. Ausgehend von dem Zweck der Antragsfrist, Rechtsfrieden zu schaffen und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung zu gewährleisten, ist nicht ersichtlich, dass eine einjährige Antragsfrist im engeren Sinne unzumutbar ist. Im Gegenteil spricht für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, dass die Versteuerung der Energieerzeugnisse innerhalb dieses Zeitraums durchgeführt sein dürfte und die Verwendung der Energieerzeugnisse ebenfalls abgeschlossen ist.
Soweit schließlich die Unternehmerin den Entlastungsanspruch nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG aus dem Grundsatz von Treu und Glauben herleiten will, vermag der Bundesfinanzhof dem nicht zu folgen. Zwar gilt der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch im Steuerrecht; aus ihm kann sich sowohl eine Bindung der Finanzbehörde als auch des Steuerpflichtigen ergeben. Allerdings setzt dies -neben weiteren Voraussetzungen- eine Schutzwürdigkeit des Steuerpflichtigen voraus[29].
Daran fehlt es im Streitfall. Das Hauptzollamt trifft keine Pflicht nachzuforschen, aus welchen Gründen keine Entlastungsanträge der Unternehmerin bei ihm eingegangen sind, selbst wenn ihm ihr Fehlen aufgefallen wäre. Denn dafür, dass ein Entlastungsberechtigter keine Entlastungsanträge stellt, kann es -außer einem Versehen- auch andere Gründe geben, zum Beispiel solche, die auf den beihilferechtlichen Vorgaben beruhen. Zudem trifft nach Aktenlage -wie bereits dargestellt- die Unternehmerin ein Organisationsverschulden; Gegenteiliges hat sie nicht vorgetragen. Das Hauptzollamt ist auch nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben veranlasst, die durch dieses Versäumnis entstandenen Folgen zu beseitigen.
Im Übrigen könnte sich selbst bei einem Vorliegen der behaupteten Pflichtverletzung des Hauptzollamtes allenfalls ein Schadensersatzanspruch der Unternehmerin ergeben, welcher aber in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte gehört (§ 71 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes).
Eine erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union hält der Bundesfinanzhof nicht für geboten, weil der Bundesfinanzhof die hier zu beurteilenden Rechtsfragen im Zusammenhang mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität durch die oben genannten EuGH-Entscheidungen als geklärt ansieht[30].
Der sich aus dem nationalen Recht ergebende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist einer Vorlage an den Unionsgerichtshof nicht zugänglich.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 29. August 2023 – VII R 1/23 (VII R 44/19)
- FG Hamburg, Urteil vom 01.02.2019 – 4 K 58/15[↩]
- BFH, Beschluss vom 08.06.2021 – VII R 44/19, BFHE 272, 568[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 24.05.2012 – III R 95/08, Rz 42[↩]
- BFH, Urteil vom 03.02.2000 – III R 4/97, BFH/NV 2000, 888[↩]
- BFH, Urteil vom 24.05.2012 – III R 95/08, Rz 43[↩]
- BVerwG, Urteil vom 30.10.2013 – 2 C 23.12, BVerwGE 148, 217, Rz 16, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 06.06.2013 – IV R 28/10; vom 17.05 .2017 – II R 35/15, BFHE 258, 95, BStBl II 2017, 966, Rz 26; und vom 29.11.2017 – I R 7/16, BFHE 260, 334, BStBl II 2019, 738, Rz 30[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 09.11.2011 – IV ZR 251/08, Rz 42[↩]
- BGH, Urteil vom 29.01.2015 – IX ZR 279/13, BGHZ 204, 83, Rz 21[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 12.05.2009 – VII R 5/08, BFH/NV 2009, 1602, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 26.09.2017 – VII R 26/16, BFHE 260, 280, m.w.N.[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteil vom 29.08.2017 – VIII R 33/15, BFHE 259, 213, BStBl II 2018, 69, Rz 31, m.w.N.[↩]
- für den Einspruch vgl. BFH, Beschluss vom 24.09.1985 – III B 3/85, BFH/NV 1986, 190; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl., § 110 Rz 4[↩]
- EuGH, Urteile Mecsek-Gabona vom 06.09.2012 – C-273/11, EU:C:2012:547, Rz 36 und ROZ-ŚWIT vom 02.06.2016 – C-418/14, EU:C:2016:400, Rz 20[↩]
- vgl. EuGH, Urteile Gabalfrisa u.a. vom 21.03.2000 – C-110/98 bis – C-147/98, EU:C:2000:145, Rz 54 und Collée vom 27.09.2007 – C-146/05, EU:C:2007:549, BStBl II 2009, 78, Rz 26; EuGH, Beschluss Transport Service vom 03.03.2004 – C-395/02, EU:C:2004:118, Rz 29[↩]
- vgl. EuGH, Urteile Petrotel-Lukoil vom 07.11.2019 – C-68/18, EU:C:2019:933 und Turbogás vom 27.06.2018 – C-90/17, EU:C:2018:498[↩]
- EuGH, Urteil Polihim-SS vom 02.06.2016 – C-355/14, EU:C:2016:403, Rz 62[↩]
- EuGH, Urteil Shell Deutschland Oil vom 22.12.2022 – C-553/21, EU:C:2022:1030[↩]
- EuGH, Urteil Shell Deutschland Oil vom 22.12.2022 – C-553/21, EU:C:2022:1030, Rz 24[↩]
- EuGH, Urteil Shell Deutschland Oil vom 22.12.2022 – C-553/21, EU:C:2022:1030, Rz 34[↩]
- EuGH, Urteil Halifax u.a. vom 21.02.2006 – C-255/02, EU:C:2006:121[↩]
- EuGH, Urteil Urteil Petrotel-Lukoil vom 07.11.2019 – C-68/18, EU:C:2019:933[↩]
- EuGH, Urteil Turbogás vom 27.06.2018 – C-90/17, EU:C:2018:498[↩]
- EuGH, Urteil Staatssecretaris van Financiën (Forclusion du droit à déduction) vom 07.07.2022 – C-194/21, EU:C:2022:535, Rz 42[↩]
- Möhlenkamp/Milewski, Energiesteuergesetz, Stromsteuergesetz, 2. Aufl., § 51 Rz 1[↩]
- vgl. Friedenhagen, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 2022, 130[↩]
- s. dazu im Einzelnen Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 17. Aufl., Art.20 Rz 116 ff.; Sachs in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl., Art.20 Rz 149 ff.[↩]
- Sachs in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl., Art.20 Rz 154[↩]
- BFH, Urteil vom 03.05.1991 – V R 36/90, BFH/NV 1992, 221[↩]
- vgl. EuGH, Urteile CILFIT vom 06.10.1982 – C-283/81, EU:C:1982:335, Rz 16 und Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi vom 06.10.2021 – C-561/19, EU:C:2021:799[↩]