Das Bundesverfassungsgericht hat Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank als unzulässig verworfen.

Beim Bundesverfassungsgericht sind derzeit mehrere Verfassungsbeschwerden zu der Frage anhängig, ob das Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors der Europäischen Zentralbank mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Verfahren zunächst ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union mehrere hierfür maßgebliche Fragen zum Europäischen Unionsrecht zur Vorabentscheidung vorgelegt[1]
In den Verfassungsbeschwerdeverfahren haben die Beschwerdeführer zudem Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen gestellt, mit denen sie im Wesentlichen erreichen wollten, dass der Deutschen Bundesbank einstweilen der weitere Ankauf von Staatsanleihen untersagt wird. Ferner sollten die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag dazu verpflichtet werden, sich mit dem Anleihenkaufprogramm aktiv auseinanderzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht wollte aber offenkundig der Entscheidung des Unionsgerichtshofs nicht vorgreifen und hat nunmehr diese Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen als unzulässig verworfen, weil eine einstweilige Anordnung des von den Antragstellern begehrten Inhalts die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen hätte.
Durch eine einstweilige Anordnung darf die Hauptsache nicht vorweggenommen werden[2]. Über die in der Hauptsache aufgeworfenen Fragen kann im Verfahren nach § 32 BVerfGG grundsätzlich nicht entschieden werden[3]; durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung soll lediglich ein Zustand vorläufig geregelt, nicht aber die Hauptsache präjudiziert werden[4]. Eine Vorwegnahme der Hauptsache steht der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur dann nicht entgegen, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät käme und dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte[5]. Unzulässig ist ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig dann, wenn es dem Antragsteller nur um eine eilige Entscheidung über die im Hauptsacheverfahren angegriffene Maßnahme geht[6].
Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache ist anzunehmen, wenn der beantragte Inhalt der einstweiligen Anordnung und das Rechtsschutzziel in der Hauptsache, wenn nicht deckungsgleich, so doch zumindest vergleichbar sind, wenn also die stattgebende einstweilige Anordnung mit dem Zeitpunkt ihres Erlasses einen Zustand in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu verwirklichen erlaubt, der erst durch die zeitlich spätere Entscheidung in der Hauptsache hergestellt werden soll.
Danach können die Anträge keinen Erfolg haben, weil eine einstweilige Anordnung des von den Antragstellern begehrten Inhalts die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnähme.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung hätte, soweit dadurch der Ankauf von Staatsanleihen durch die Bundesbank im Rahmen des PSPP untersagt würde, nicht nur vorläufigen Charakter. Mit der Unterbrechung der Anleihekäufe durch die Bundesbank würde die Zielsetzung des PSPP, durch eine weitere Lockerung der monetären und finanziellen Bedingungen eine Transmission der geldpolitischen Effekte des Programms auf die Realwirtschaft und dadurch eine Anhebung der Inflation auf knapp 2% zu bewirken[7], aufgrund des hohen prozentualen Anteils der von der Bundesbank getätigten Ankäufe[8] jedenfalls stark eingeschränkt oder womöglich sogar verhindert werden. Ob der Ausfall dieses Anteils ohne Weiteres von den übrigen Mitgliedern des Eurosystems kompensiert werden könnte und würde, wie die Antragsteller meinen, ist ungewiss. Es ist auch unwahrscheinlich, dass nach einer im Wege der einstweiligen Anordnung erwirkten Aussetzung der von der Bundesbank getätigten Ankäufe die damit verbundenen Folgen im Fall des Scheiterns der Beschwerdeführer im Hauptsacheverfahren ohne Weiteres wieder beseitigt werden könnten, ohne dass Zielsetzung und Durchführung der von der EZB beabsichtigten Impulse dauerhaft beeinträchtigt würden. Das folgt schon aus dem zu erwartenden Zeitablauf. Eine antragsgemäße einstweilige Anordnung ginge daher über die bloße Sicherung des Status quo hinaus und wäre weitgehend identisch mit einer stattgebenden Entscheidung in der Hauptsache.
Dies gilt auch, soweit beantragt wurde, Bundesregierung und Bundestag in Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung dazu zu verpflichten, sich aktiv mit der Frage auseinanderzusetzen, auf welche Weise bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache der Fortsetzung des PSPP der EZB, insbesondere jeder Ausweitung des Programms, entgegengetreten werden kann.
Die Vorwegnahme der Hauptsache ist auch nicht ausnahmsweise zulässig, weil den Antragstellern sonst ein schwerer, nicht wieder gutzumachender Nachteil entstünde. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seinen Beschluss, zur Beurteilung der Primärrechtskonformität der von den Beschwerdeführern in der Hauptsache angegriffenen Maßnahmen den EuGH im Wege des Verfahrens nach Art. 267 AEUV um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, die notwendigen Verfahrensschritte eingeleitet, die erforderlich sind, um Akte deutscher Hoheitsgewalt, die auf einer sekundärrechtlichen Verpflichtung beruhen, abschließend verfassungsrechtlich beurteilen zu können. Nach einer Entscheidung des EuGH bleibt eine stattgebende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache möglich, so dass die Antragsteller als Beschwerdeführer im Hauptsacheverfahren ihr Rechtsschutzziel erreichen können. Dem steht auch nicht entgegen, dass der EuGH den Antrag des Bundesverfassungsgerichts auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des EuGH abgelehnt hat; denn er hat mit seinem Schreiben vom 08.09.2017 zugleich mitgeteilt, die Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des EuGH mit Vorrang zu entscheiden.
Soweit einige Antragsteller beantragen, die Bundesregierung im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, gegen das PSPP und gegen das Corporate Sector Purchase Programme (CSPP) der EZB Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu erheben, fehlt dem Antrag bereits das Rechtsschutzbedürfnis, weil das Bundesverfassungsgericht den Unionsgerichtshof mit dem Vorlagebeschluss vom 18.07.2017 ohnehin mit den aufgeworfenen Rechtsfragen befasst hat.
Das Rechtsschutzbedürfnis ist auch insoweit zu verneinen, als einuge Antragsteller beantragen, der Bundesregierung und insbesondere dem Bundesminister der Finanzen bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu untersagen, die EZB bei der Durchführung des PSPP – insbesondere durch öffentliche Äußerungen – zu unterstützen. Die Bundesregierung ist aus Gründen der Organtreue nicht verpflichtet, sich vom Bundesverfassungsgericht in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV formulierte Zweifel an der Vertragskonformität einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU vor Abschluss des Verfahrens zu eigen zu machen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15 und 2 BvR 1651/15
- BVerfG, Beschluss vom 18.07.2017 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15 und 2 BvR 1651/15[↩]
- BVerfGE 34, 160, 162; 46, 160, 163 f.; 67, 149, 151; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 12, 276, 279; 15, 77, 78[↩]
- vgl. BVerfGE 8, 42, 46; 15, 219, 221[↩]
- vgl. BVerfGE 34, 160, 162 f.; 67, 149, 151; 108, 34, 40; 130, 367, 369[↩]
- vgl. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Lfg. 21, Juli 2002, § 32 Rn. 48[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.07.2017 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 13[↩]
- vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 5 f.[↩]