Das Einschleusen von Ausländern

Im Anschluss an die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union[1] vom 10. April 2012 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass formell bestandskräftige Visa von Drittstaatsangehörigen, die diese durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats über den wahren Reisezweck erlangt haben, schließen deren Strafbarkeit wegen illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG) sowie eine Strafbarkeit gemäß den hieran anknüpfenden Schleusungstatbeständen der §§ 96, 97 AufenthG nach § 95 Abs. 6 AufenthG verfassungsrechtlich unbedenklich nicht aus. Genausowenig steht das Unionsrecht dem entgegen.

Das Einschleusen von Ausländern

So hat der Bundesgerichtshof in dem hier vorliegenden Fall, in dem es um die Strafbarkeit wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern geht, entschieden. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen ist Revision eingelegt worden.

Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs wird der Schuldspruch wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern (§ 97 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 und § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) von den Feststellungen des Landgerichts getragen. Entgegen vormaliger Rechtslage[2] schadet es dabei nicht, dass die geschleusten Personen zur Tatzeit jeweils über Visa verfügten, die formal die Einreise in den Schengenraum und den dortigen Aufenthalt erlaubten. Denn nach dem durch Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007[3] eingeführten § 95 Abs. 6 AufenthG steht für die Tatbestände nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein Handeln aufgrund eines durch falsche Angaben erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.

Die Voraussetzungen des § 95 Abs. 6 AufenthG sind erfüllt. Die zu schleusenden Personen gaben – unterstützt durch im angefochtenen Urteil teils benannte Bandenmitglieder – gegenüber den Amtsträgern der ungarischen Botschaft in Vietnam bewusst wahrheitswidrig vor, zu touristischen Zwecken bzw. zum Zweck des Beerenpfückens in Schweden für einen Kurzaufenthalt in den Schengenraum einreisen zu wollen[4]. Demgegenüber hatten sie von Anfang an die Absicht, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, was der Erteilung der Visa zwingend entgegenstand[5]. Nur aufgrund der Fehlvorstellung der Amtsträger über den wahren Zweck der Reisen wurden die Visa nach den Feststellungen erteilt. Soweit das Landgericht die Festnahme eines Angehörigen der ungarischen Botschaft erwähnt, steht dies den Feststellungen zu Irrtümern der maßgebenden Funktionsträger nicht entgegen. Im Übrigen wären andernfalls Fälle der Kollusion nach § 95 Abs. 6 AufenthG gegeben, die zu demselben Ergebnis führen würden.

Für die Annahme deutscher Strafgewalt irrelevant ist, dass sich die Vorgänge zum Erschleichen der Visa im Ausland abgespielt haben. Das gilt schon deswegen, weil es sich bei § 95 Abs. 6 AufenthG nicht um einen eigenständigen Straftatbestand, sondern um eine Gleichstellungsklausel in Bezug auf das in § 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG normierte (negative) Tatbestandsmerkmal des Fehlens eines erforderlichen Aufenthaltstitels handelt[6].

§ 95 Abs. 6 AufenthG stellt für die Fälle des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG) ein Handeln aufgrund eines solchermaßen erlangten Aufenthaltstitels einem Handeln ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel gleich. Die Vorschrift bewirkt in den relevanten Fällen trotz Vorhandensein eines verwaltungsrechtlich formell bestandskräftigen Aufenthaltstitels eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, die ihrerseits den Anknüpfungspunkt für die „Schleusungstatbestände“ nach §§ 96, 97 AufenthG bilden können[7].

Dass der Gesetzgeber diese Rechtsfolge herbeiführen wollte, unterliegt keinem Zweifel. Unter anderem mit der Einführung des § 95 Abs. 6 AufenthG reagierte er auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. April 2005[8]. Darin wurde entschieden, dass ausländerrechtlichen Erlaubnissen für die verwaltungsakzessorischen Straftatbestände des Aufenthaltsgesetzes Tatbestandswirkung zukommt, weswegen rechtsmissbräuchlich erlangte, jedoch formell wirksame Einreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen (Visa) die Strafbarkeit wegen illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3, auch i.V.m. § 96 Abs. 1 AufenthG) ausschließen[9]. Der Behebung von Strafbarkeitslücken aufgrund dieser Entscheidung dienten verschiedene im genannten Gesetz enthaltene Maßnahmen[10]. Mit dem an § 330d Nr. 5 StGB angelehnten § 95 Abs. 6 AufenthG wollte der Gesetzgeber sämtliche Fälle erfassen, „in denen die strafbefreiende Genehmigung auf unlautere Weise erlangt worden ist“[11].

In § 95 Abs. 6 AufenthG hat der gesetzgeberische Wille auch unter dem Blickwinkel des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) hinreichenden Niederschlag gefunden. Für die illegale Einreise erscheint dies eindeutig und wird im Schrifttum soweit ersichtlich auch nicht bestritten[12]. Gleiches gilt indessen entgegen vereinzelten Stimmen in der Literatur[13] auch in Bezug auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG[14].

Allerdings ersetzt § 95 Abs. 6 AufenthG ausdrücklich nur das Fehlen des erforderlichen Aufenthaltstitels und erwähnt die weitere in § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG enthaltene Voraussetzung einer vollziehbaren Ausreisepflicht nicht. Der Umstand, dass ein formell bestandskräftiger Aufenthaltstitel grundsätzlich eine vollziehbare Ausreisepflicht hindert, führt indessen nicht dazu, dass die ausdrücklich auch auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zielende Regelung des § 95 Abs. 6 AufenthG „fehlgeschlagen“ ist[15]. Aus der Gleichstellung des Handelns auf Grund eines erschlichenen Aufenthaltstitels mit dem Handeln ohne Aufenthaltstitel folgt vielmehr auch, dass im Rahmen der Strafvorschriften des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG die mit einem erschlichenen Aufenthaltstitel erfolgte Einreise als unerlaubt und die Ausreisepflicht somit als vollziehbar anzusehen ist (vgl. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Ausdrücklicher Erwähnung im Gesetzestext bedarf dies nicht zwingend.

Über eine Duldung verfügten die eingeschleusten Personen nicht. Im Hinblick darauf, dass sie sich im Bundesgebiet von vornherein vor den Behörden verborgen haben, stellt sich die Frage eines die Erfüllung des Tatbestands ausschließenden hypothetischen Duldungsanspruchs[16] mithin nicht[17].

§ 95 Abs. 6 AufenthG lockert im vorbezeichneten Umfang die Akzessorietät der betroffenen Strafrechtsbestimmungen zum – unionsrechtlich ausgeformten – Verwaltungsrecht. Im Hinblick darauf, dass zur Beurteilung unionsrechtlicher Zulässigkeit eines solchen Konzepts einschlägige oder übertragbare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht ersichtlich gewesen ist[18], hat der Bundesgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 8. Februar 2012[19] gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„Sind die die Erteilung und Annullierung eines einheitlichen Vi-sums regelnden Art. 21, 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft[20] dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen entgegenstehen, in denen die geschleusten Personen zwar über ein Visum verfügen, dieses aber durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates über den wahren Reisezweck erlangt haben?“

Mit Urteil vom 10. April 2012[1] hat der Gerichtshof der Europäischen Union auf das Vorabentscheidungsersuchen hin für Recht erkannt:

„Die Art. 21 und 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) sind dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen, in denen die geschleusten Personen, die Drittstaatsangehörige sind, über ein Visum verfügen, das sie durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats über den wahren Reisezweck erlangt haben und das nicht zuvor annulliert worden ist, nicht entgegenstehen.“

Bei Anwendung dieser Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall ist das Landgericht in Einklang mit dem Unionsrecht davon ausgegangen, dass die formell vorhandenen Visa der geschleusten Personen wegen Erfüllung des § 95 Abs. 6 AufenthG einer Strafbarkeit des Angeklagten nicht entgegenstehen.

Auch durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht gegeben. Die Lockerung der Verwaltungsakzessorietät hat § 95 Abs. 6 AufenthG mit § 330d Nr. 5 StGB und ähnlichen Bestimmungen (§ 34 Abs. 8 AWG, § 16 Abs. 4 CWÜAG) gemein. Einfachrechtlich liegen diese Maßnahmen im Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers. Der verfassungsrechtlich gewährleistete Vertrauensschutz ist mangels schutzwürdigen Vertrauens der geschleusten Personen und der diese unterstützenden Mitglieder der Schleuserorganisationen offensichtlich nicht verletzt[21]. Auch der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung[22] hindert nicht, einer durch die Beteiligten rechtsmissbräuchlich erlangten rechtswidrigen Erlaubnis, die aus diesem Grunde von den zuständigen Verwaltungsbehörden zu „annullieren“, also mit Wirkung ex tunc aufzuheben[23] und damit aus von den Betroffenen selbst zu verantwortenden Gründen von Anfang an schwer fehlerbehaftet ist, eine die Strafbarkeit ausschließende Wirkung zu versagen[24]. Vielmehr verhilft die Regelung dem gleichfalls verfassungsrechtlich abgesicherten Gebot wirksamer Verfolgung und Ahndung von Straftaten[25] zum Erfolg. Typischerweise ist eine formell erklärte Annullierung der Visa in Konstellationen wie der hier zu beurteilen-den weder vor noch nach der Einreise der geschleusten Personen faktisch möglich. Dementsprechend würden die einschlägigen Tatbestände ohne Bestand des § 95 Abs. 6 AufenthG weitgehend leerlaufen. Wenn der Gesetzgeber den vordergründigen Widerstreit der genannten Belange dahin auflöst, dass er dem Gebot effektiver Verfolgung und Ahndung von Straftaten den Vorrang gibt, so ist dies von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

Eines Anfrageverfahrens zum Zweck der Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen (§ 132 Abs. 2, 3 GVG) im Hinblick auf BGHSt aaO bedurfte es nach der seither erfolgten Gesetzesänderung nicht[26].

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24. Mai 2012 – 5 StR 567/11

  1. EuGH, Urteil vom 10.04.2012 – C-83/12 PPU[][]
  2. hierzu BGH, Urteil vom 27.04.2005 – 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105[]
  3. BGBl. I S. 1970, 1988[]
  4. vgl. Art. 21 der nach deren Art. 58 Abs. 2 ab dem 5. April 2010 geltenden Verordnung [EG] Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.07.2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft, ABl. L 243 vom 15.09.2009, S. 1 – Visakodex – i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. a, c, d und e der Verord-nung [EG] Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.03.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, ABl. L 105 vom 13.04.2006, S. 1 – Schengener Grenzkodex[]
  5. vgl. Art. 21 Abs. 1 Visakodex, Art. 5 Abs. 1 lit. e Schengener Grenzkodex; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 6 Rn. 22[]
  6. vgl. Wohlers JZ 2001, 850, 853 f.; aM wohl Stoppa in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2010, § 95 Rn. 368 ff.; Schott, Einschleusen von Ausländern, 2. Aufl., S. 280 ff.[]
  7. aM Schott, aaO, S. 283 f.[]
  8. BGHSt aaO[]
  9. BGHSt aaO, S. 110 ff.[]
  10. hierzu Regierungsentwurf, BT-Drucks. 16/5065 S. 164, 182 f., 199[]
  11. BT-Drucks. 16/5065 S. 199; vgl. hierzu auch den diesbezüglichen Hinweis in BGHSt aaO, S. 115[]
  12. vgl. MünchKomm-StGB/Gericke, 1. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 107[]
  13. Gericke, aaO, § 95 AufenthG Rn. 28; Schott, aaO, S. 282 f.[]
  14. so im Ergebnis der Großteil des Schrifttums, vgl. Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand April 2010, § 95 AufenthG Rn. 11a; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 22; Mosbacher in GK/AufenthG, Stand Juli 2008, § 95 Rn. 57; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 2010, § 95 AufenthG Rn. 110; Brocke, NStZ 2009, 546, 548[]
  15. so Gericke, aaO; Schott, aaO[]
  16. hierzu BVerfG, NStZ 2003, 488, 489[]
  17. BGH, Urteil vom 06.10.2004 – 1 StR 76/04, BGHR AuslG § 92 Unerlaubter Aufenthalt 4 mwN; Beschluss vom 02.09.2009 – 5 StR 266/09, BGHSt 54, 140, 142[]
  18. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24.10.2011 – 2 BvR 1969/09 Rn. 25, und vom 22.09.2011 – 2 BvR 947/11 Rn. 14, jeweils mwN[]
  19. vgl. auch BGH, Beschluss vom 10.01.2012 – 5 StR 351/11, wistra 2012, 152[]
  20. ABl. L 243 vom 15.09.2009, S. 1, Visakodex – VK[]
  21. vgl. Gericke, aaO, § 95 AufenthG Rn. 107, Heine in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 330d Rn. 27 mit zahlreichen Nachweisen[]
  22. vgl. dazu etwa BVerfGE 116, 164 mwN[]
  23. vgl. Art. 34 Abs. 1 Visakodex[]
  24. für § 330d Nr. 5 StGB hM, vgl. etwa Heine, aaO, § 330d Rn. 27; LK-StGB/Steindorf, 11. Aufl., § 330d Rn. 6; SSW-StGB/Saliger, 2009, § 330d Rn. 15; Wohlers, aaO, S. 854 f.; je mwN auch zur Gegenansicht; siehe auch Hecker in Sieber u.a., Europäisches Strafrecht, 2011, § 28 Rn. 17[]
  25. vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27.03.2012 – 2 BvR 2258/09 Rn. 50 mwN[]
  26. vgl. BGH, Beschluss vom 23.05.2011 – 5 StR 394, 440, 474/10, BGHSt 56, 248, 251 mwN[]