Das unterbliebene Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts

Ein Amtsgericht verletzt das Recht der Prozessparteien auf den gesetzlichen Richter, wenn es aufgrund einer teilweisen Klageabweisung, der dadurch für die Prozesspartei nicht erreichten Berufungsbeschwer (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und der nicht zugelassenen Berufung letztinstanzlich tätig geworden ist und entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV von einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen hat.

Das unterbliebene Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG[1]. Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen[2]. Es kann einen Entzug des gesetzlichen Richters darstellen, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt[3].

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union[4] muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair)[5]. Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen[6].

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht)[7].

Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft)[8].

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit[9], so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat[10]. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind[11]. Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ durch die Fachgerichte ist der Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten[12].

In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts ausreichend kundig gemacht hat. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren[13]. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts[14] die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“)[15]. Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zudem hat das Fachgericht Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen[16].

Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union kommt es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts – hier der DSGVO – an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV, die den gesetzlichen Richter im Streitfall bestimmt[17].

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. Januar 2021 – 1 BvR 2853/19

  1. vgl. BVerfGE 73, 339 <366> 82, 159 <192> 126, 286 <315> 128, 157 <186 f.> 129, 78 <105> 135, 155 <230 f. Rn. 177>[]
  2. vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.> 128, 157 <187> 129, 78 <105>[]
  3. vgl. BVerfGE 73, 339 <366 f.> 82, 159 <192 ff.> 135, 155 <230 f. Rn.177> stRspr[]
  4. EuGH, Urteil vom 06.10.1982, C.I.L.F.I.T., – C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 21; Urteil vom 15.09.2005, – C-495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33; Urteil vom 06.12.2005, – C-461/03, EU:C:2005:742, Rn. 16; stRspr[]
  5. vgl. auch BVerfGE 82, 159 <193> 128, 157 <187> 129, 78 <105 f.> 140, 317 <376 Rn. 125> 147, 364 <378 f. Rn. 37>[]
  6. vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982, C.I.L.F.I.T., – C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16[]
  7. vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.> 126, 286 <316 f.> 128, 157 <187 f.> 129, 78 <106 f.> 135, 155 <232 Rn. 181> 147, 364 <380 Rn. 41>[]
  8. vgl. BVerfGE 75, 223 <245> 82, 159 <195> 126, 286 <316 f.> 128, 157 <187 f.> 129, 78 <106 f.> 135, 155 <232 Rn. 182> 147, 364 <381 Rn. 42>[]
  9. Unvollständigkeit der Rechtsprechung[]
  10. vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.> 126, 286 <316 f.> 128, 157 <187 f.> 129, 78 <106 f.> 135, 155 <232 f. Rn. 183>[]
  11. vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.> BVerfGK 10, 19 <29>[]
  12. vgl. BVerfGE 135, 155 <232 f. Rn. 183> 147, 364 <381 Rn. 43>[]
  13. vgl. BVerfGE 82, 159 <196> 128, 157 <189>[]
  14. vgl. BVerfGE 75, 223 <234> 128, 157 <188> 129, 78 <107>[]
  15. vgl. BVerfGE 129, 78 <107>[]
  16. vgl. BVerfGE 147, 364 <380 f. Rn. 41> BVerfGK 8, 401 <405> 10, 19 <30 f.> BVerfG, Beschluss vom 09.01.2001 – 1 BvR 1036/99, Rn. 21; Beschluss vom 20.02.2008 – 1 BvR 2722/06; Beschluss vom 25.02.2010 – 1 BvR 230/09, Rn.19[]
  17. vgl. BVerfGE 128, 157 <188> BVerfG, Beschluss vom 25.02.2010 – 1 BvR 230/09, Rn.20; Beschluss vom 30.08.2010 – 1 BvR 1631/08, Rn. 48[]