Das Gericht der Europäischen Union hat jetzt in einem zweiten Anlauf eine Verordnung, mit der die Gelder eines Saudischen Staatsangehörigen, Yassin Abdullah Kadi, eingefroren wurden, für nichtig erklärt. Die Verordnung wurde unter Verstoß gegen die Verteidigungsrechte von Herrn Kadi erlassen und stellt eine ungerechtfertigte Beschränkung seines Eigentumsrechts dar, so das Europäische Gericht.

Der saudische Staatsangehörige Yassin Abdullah Kadi ist vom Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen als mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban verbunden bezeichnet worden. Nach einer Reihe von Resolutionen des Sicherheitsrats müssen alle Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, die Gelder und sonstigen finanziellen Vermögenswerte einfrieren, die der direkten oder indirekten Kontrolle solcher Personen oder Organisationen unterstehen.
In der Europäischen Gemeinschaft erließ der Rat zur Umsetzung dieser Resolutionen eine Verordnung [1], mit der die Gelder und sonstigen wirtschaftlichen Ressourcen der in einer Liste im Anhang dieser Verordnung aufgeführten Personen und Organisationen eingefroren werden. Diese Liste wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert, um den Änderungen der vom Sanktionsausschuss, einem Organ des Sicherheitsrats, erstellten konsolidierten Liste Rechnung zu tragen. Der Name von Herrn Kadi wurde am 17. Oktober 2001 der konsolidierten Liste hinzugefügt und anschließend in die Liste der Gemeinschaftsverordnung übernommen.
Die von Herrn Kadi vor dem Gericht der Europäischen Gemeinschaft erhobene Nichtigkeitsklage wurde am 21. September 2005 abgewiesen [2]. Dabei entschied das Europäische Gericht insbesondere, dass die Gemeinschaftsgerichte grundsätzlich (ausgenommen im Hinblick auf einige zwingende Regeln des Völkerrechts, das sogenannte ius cogens) für die Prüfung der Gültigkeit der fraglichen Verordnung nicht zuständig seien, da die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Charta der Vereinten Nationen, eines völkerrechtlichen Abkommens, das Vorrang vor dem Gemeinschaftsrecht habe, den Resolutionen des Sicherheitsrats nachkommen müssten.
Im September 2008 entschied dagegen der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften über das Rechtsmittel, das Herr Kadi gegen das Urteil des Gerichts eingelegt hatte [3]. Der Europäische Gerichtshof stellte fest, dass die Gemeinschaftsgerichte zur Kontrolle der von der Gemeinschaft zur Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erlassenen Handlungen befugt sind, und hob daraufhin das Urteil des Europäischen Gerichts auf. Anschließend entschied der Gerichtshof den Rechtsstreit und erklärte die Verordnung über das Einfrieren der Gelder für nichtig, da sie unter Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen erlassen worden war. Der Gerichtshof erhielt die Wirkungen der Verordnung jedoch für einen Zeitraum von drei Monaten aufrecht, um es dem Rat zu ermöglichen, die festgestellten Verstöße zu heilen.
Im Oktober 2008 teilte die Kommission Herrn Kadi in einem Schreiben mit, dass sie aus den Gründen, die in der dem Schreiben beigefügten, vom UN-Sanktionsausschuss auf Ersuchen der Union erstellten Zusammenfassung der Gründe dargelegt seien, den Erlass eines Rechtsakts beabsichtige, um seine Eintragung in der Liste aufrechtzuerhalten. Außerdem forderte sie ihn auf, sich zu den angeführten Gründen zu äußern.
Herr Kadi übermittelte in Beantwortung dieses Schreibens seine Stellungnahme. Er forderte die Kommission insbesondere auf, für die in der Zusammenfassung der Gründe enthaltenen Behauptungen und Unterstellungen Beweise vorzulegen, und bat darum, ihm nach Erhalt dieser Beweise eine erneute Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Außerdem versuchte er, die in der Zusammenfassung der Gründe enthaltenen Behauptungen mit Beweisen zu widerlegen, soweit er sich dazu in der Lage sah, allgemeinen Vorwürfen entgegenzutreten.
Am 28. November 2008 erließ die Kommission eine neue Verordnung [4], mit der das Einfrieren der Gelder von Herrn Kadi aufrechterhalten wurde. Nach Erlass dieser Verordnung antwortete die Kommission Herrn Kadi, dass sie seine Stellungnahme geprüft habe. Sie wies insbesondere darauf hin, dass sie dem Urteil Kadi des Gerichtshofs dadurch nachgekommen sei, dass sie ihm die vom UN-Sanktionsausschuss übermittelte Zusammenfassung der Gründe zugesandt und ihn zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert habe und dass sie nach diesem Urteil nicht zu der von ihm verlangten Übermittlung weiterer Beweise verpflichtet sei. Herr Kadi hat diese neue Verordnung wiederum beim Gericht der Europäischen Union angefochten.
Das Europäische Gericht weist zunächst darauf hin, dass in der juristischen Fachwelt Zweifel geäußert worden sind, ob das Urteil Kadi des Europäischen Gerichtshofs in vollem Einklang zum einen mit dem Völkerrecht und zum anderen mit dem EG-Vertrag und dem EU-Vertrag steht. Es spricht diesen Kritiken zwar nicht das Gewicht ab, hält es jedoch für unangemessen, die rechtliche Beurteilung des Europäischen Gerichtshofs im Urteil Kadi in Frage zu stellen. Für den Fall, dass es erforderlich sein sollte, auf diese Zweifel einzugehen, bezeichnet es das Gericht als Sache des Gerichtshofs selbst, dies im Rahmen künftiger Rechtssachen zu tun, über die er zu entscheiden haben könnte.
Das Gericht der Euoropäischen Union ist der Ansicht, dass es im vorliegenden Fall angesichts des Urteils Kadi des Europäischen Gerichtshofs eine umfassende und strenge Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verordnung sicherzustellen hat, ohne diese Verordnung auf irgendeine Art und Weise mit der Begründung, dass sie zur Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats diene, als einer gerichtlichen Überprüfung entzogen anzusehen. Es hält dies zumindest insofern für erforderlich, als die vom Sanktionsausschuss angewandten Überprüfungsverfahren, wie der Gerichtshof in seinem Urteil Kadi festgestellt hat, keinen wirksamen Rechtsschutz gewährleisten. Diese Kontrolle muss sich indirekt auf die Tatsachenfeststellungen, die der Sanktionsausschuss selbst getroffen hat, und auf die Beweise beziehen, die diesen Tatsachenfeststellungen zugrunde liegen. Dies ist umso mehr gerechtfertigt, als die Grundrechte von Herrn Kadi, der seit nunmehr fast zehn Jahren einer Regelung unterliegt, durch die seine gesamten Mittel für unbestimmte Zeit eingefroren sind, durch die in Rede stehenden Maßnahmen in erheblichem Maße und dauerhaft beeinträchtigt werden.
Das Gericht stellt im Rahmen dieser umfassenden Kontrolle fest, dass sich aus dem Vorbringen und den Erklärungen der Kommission eindeutig ergibt, dass die Verteidigungsrechte von Herrn Kadi nur rein formal und dem Anschein nach „geachtet“ worden sind. Die Kommission hat die Stellungnahme von Herrn Kadi nicht gebührend berücksichtigt, so dass er seine Auffassung nicht zweckdienlich geltend machen konnte.
Außerdem hat das Verfahren, das die Kommission nach dem Ersuchen von Herrn Kadi durchgeführt hat, ihm nicht den geringsten Zugang zu den ihm zur Last gelegten Beweisen geboten. In Wirklichkeit ist ihm dieser Zugang trotz seines ausdrücklichen Ersuchens verweigert worden, ohne seine Interessen gegen das Erfordernis abzuwägen, die Vertraulichkeit der in Rede stehenden Informationen zu schützen.
Unter diesen Umständen reichen die wenigen Informationen und die vagen Behauptungen in der Zusammenfassung der Gründe offenkundig nicht aus, um Herrn Kadi die Möglichkeit zu geben, die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in Bezug auf seine angebliche Teilnahme an terroristischen Aktivitäten wirksam zu widerlegen.
Außerdem hat die Kommission, so das Europäische Gericht weiter, keine ernsthaften Bemühungen unternommen, um die Entlastungsbeweise zu widerlegen, die Herr Kadi in den wenigen Fällen vorgebracht hat, in denen die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen so präzise waren, dass er verstehen konnte, was man ihm vorwarf.
Demzufolge ist die Verordnung unter Verstoß gegen die Verteidigungsrechte von Herrn Kadi erlassen worden.
Da Herr Kadi außerdem zu den ihm zur Last gelegten Informationen und Beweisen nicht den geringsten sachdienlichen Zugang hatte, konnte er seine Rechte vor dem Unionsrichter nicht unter zufriedenstellenden Bedingungen wahrnehmen, so dass auch ein Verstoß gegen den Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz festzustellen ist.
Schließlich stellt das Gericht fest, dass die Verordnung in Anbetracht der umfassenden Geltung und der effektiven Dauer der Maßnahmen des Einfrierens auch eine ungerechtfertigte Beschränkung des Eigentumsrechts von Herrn Kadi darstellt.
Folglich erklärte das Gericht der Europäischen Union die Verordnung für nichtig, soweit sie Herrn Kadi betrifft.
Gericht der Europäischen Union, Urteil vom 30. September 2010 – T‑85/09 [Yassin Abdullah Kadi /Kommission]
- Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. Mai 2002 über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 467/2001 des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan (ABl. L 139, S. 9).[↩]
- EuG, Urteil vom 21.09.2005 – T‑315/01 [Kaid/Rat][↩]
- EuGH, Urteil vom 03.09.2008, C‑402/05 P und C‑415/05 P [Kadi und Al Barakaat Foundation][↩]
- Verordnung (EG) Nr. 1190/2008 der Kommission vom 28. November 2008 zur 101. Änderung der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 (ABl. L 322, S. 25).[↩]