Die Verpflichtung zur Aufnahme von zwei Fingerabdrücken in Personalausweisen ist, wie der Gerichtshof der Europäischen Union aktuell entschieden hat, mit den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten vereinbar.

Diese Verpflichtung ist durch die Ziele gerechtfertigt, die Herstellung gefälschter Personalausweise und den Identitätsdiebstahl zu bekämpfen sowie die Interoperabilität der Überprüfungssysteme zu gewährleisten.
Der Gerichtshof der Europäischen Union erklärte die diese Maßnahme vorsehende „Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Aufenthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben“ allerdings gleichwohl für ungültig, weil sie auf die falsche Rechtsgrundlage gestützt und infolgedessen nach dem falschen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden ist. Wegen der schwerwiegenden negativen Folgen, die eine Ungültigkeitserklärung mit sofortiger Wirkung hätte, hält der Unionsgerichtshof die Wirkungen der Verordnung bis zum Inkrafttreten einer neuen Verordnung, längstens bis zum 31. Dezember 2026, aufrecht.
Dieser Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union lag ein Fall aus Deutschland zugrunde: Ein deutscher Staatsbürger wendet sich vor dem Verwaltungsgericht gegen die Weigerung der Stadt Wiesbaden, ihm einen neuen Personalausweis ohne Aufnahme seiner Fingerabdrücke auszustellen. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden ersuchte den Unionsgerichtshof daraufhin um Prüfung der Gültigkeit der Unionsverordnung, die die Verpflichtung vorsieht, zwei Fingerabdrücke in das Speichermedium von Personalausweisen aufzunehmen.
Mit einem solchen Vorabentscheidungsersuchen haben die Gerichte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit (und in bestimmten Fällen auch die Pflicht), dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Union vorzulegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht auch über den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Dieser Rechtsstreit ist sodann unter Zugrundelegung der Entscheidung des Gerichtshofs vom nationalen Gericht zu entscheiden. Die Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise auch andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Fragen zu befinden haben.
In seinem jetzt verkündeten Urteil stellt der Unionsgerichtshof fest, dass die Verpflichtung, zwei vollständige Fingerabdrücke in das Speichermedium von Personalausweisen aufzunehmen, eine Einschränkung der durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellt.
Diese Aufnahme ist jedoch durch die dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen gerechtfertigt, die Herstellung gefälschter Personalausweise und den Identitätsdiebstahl zu bekämpfen sowie die Interoperabilität der Überprüfungssysteme zu gewährleisten. Denn sie ist zur Erreichung dieser Zielsetzungen geeignet und erforderlich und im Hinblick auf diese Zielsetzungen nicht unverhältnismäßig.
Insbesondere soweit die Aufnahme von zwei Fingerabdrücken es ermöglicht, die Herstellung gefälschter Personalausweise und den Identitätsdiebstahl zu bekämpfen, vermag sie einen Beitrag sowohl zum Schutz des Privatlebens der betroffenen Personen als auch im weiteren Sinne zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus zu leisten. Da sie es den Unionsbürgern ermöglicht, sich auf zuverlässige Weise zu identifizieren, erleichtert sie zudem die Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt in der Europäischen Union. Die mit dieser Aufnahme verfolgten Zielsetzungen haben somit nicht nur für die Union und die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Unionsbürger besondere Bedeutung.
Die Aufnahme allein eines Gesichtsbilds wäre ein weniger wirksames Identifizierungsmittel als die zusätzlich zu diesem Bild erfolgende Aufnahme von zwei Fingerabdrücken. Alterung, Lebensweise, Erkrankung oder ein chirurgischer Eingriff können nämlich die anatomischen Merkmale des Gesichts verändern.
Die in Rede stehende Verordnung wurde jedoch auf die falsche Rechtsgrundlage gestützt und infolgedessen nach dem falschen, d. h. nach dem ordentlichen statt nach einem besonderen, Gesetzgebungsverfahren erlassen, das insbesondere die Einstimmigkeit im Rat erfordert. Das Europäische Parlament und der Rat haben die Verordnung nämlich auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV betreffend das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erlassen. Die richtige Rechtsgrundlage ist jedoch die spezifischere Bestimmung des Art. 77 Abs. 3 AEUV, der den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung, betrifft. Diese Bestimmung sieht ein besonderes Gesetzgebungsverfahren und insbesondere die Einstimmigkeit im Rat vor. Der Unionsgerichtshof erklärte die Verordnung daher für ungültig.
Die Ungültigerklärung der Verordnung mit sofortiger Wirkung könnte schwerwiegende negative Folgen für eine erhebliche Zahl von Unionsbürgern und für ihre Sicherheit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben. Daher hält der Unionsgerichtshof die Wirkungen der Verordnung bis zum Inkrafttreten einer neuen, auf die richtige Rechtsgrundlage gestützten Verordnung innerhalb einer angemessenen Frist, längstens bis zum 31. Dezember 2026, aufrecht.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 21. März 2024 – C -61/22