Die in einem anderen EU-Mitgliedsstaat bereits zuerkannte Flüchtlingseigenschaft

Das Verwaltungsgericht ist zu einer Sachentscheidung über den Asylantrag der Kläger verpflichtet gewesen, da durch ein Verwaltungsgericht rechtskräftig festgestellt worden ist, dass die Asylbewerber nicht in das Erstaufnahmeland (hier: nach Griechenland) zurückkehren können, weil ihnen dort die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohen würde.

Die in einem anderen EU-Mitgliedsstaat bereits zuerkannte Flüchtlingseigenschaft

Zwar bestimmt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Vorschrift ist in den Fällen anderweitiger Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Europäischen Union unangewendet zu lassen, in denen der betreffende Ausländer wegen einer nach Art. 4 GRC drohenden ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht durch Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU auf den (formal gewährten) Schutz des anderen Mitgliedstaates verwiesen werden darf[1]

Andererseits folgt ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aber nicht aus der bereits in dem anderen EU-Mitgliedsstaat (hier: Griechenland) erfolgten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine unmittelbare Bindungswirkung der von einem anderen Staat getroffenen Statusentscheidung ergibt sich weder aus nationalem Recht noch aus dem Unionsrecht.

Die von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Griechenland ausgehenden Rechtswirkungen sind nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt. Eine weitergehende Bindung des Bundesamtes lässt sich nationalrechtlich auch nicht aus § 3 Abs. 3 AsylG oder aus verfassungsrechtlichen Vorgaben herleiten[2]

Keiner näheren Erörterung bedarf die Frage, ob etwas anderes gilt, wenn die Verantwortung für einen Flüchtling nach Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention i. V. m. § 11 ihres Anhangs auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist. Den nach § 137 Abs. 3 und § 134 Abs. 4 VwGO bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts lassen sich die tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen Verantwortungsübergangs im Falle der Kläger nicht entnehmen.

Die Kläger können auch aus dem Unionsrecht keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein aus dem Umstand ableiten, dass ihnen ein solcher Status bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährt wurde. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten im Bereich des internationalen Schutzes nicht, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen[3]. Anderes folgt nicht aus einem ebenfalls am 18.06.2024 ergangenen Urteil des EUGH[4], das allein das Auslieferungsrecht zum Gegenstand hat.

Das Verwaltungsgericht verstößt jedoch dadurch gegen Bundesrecht, dass es die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, nicht in vollem Umfang berücksichtigt hat. Damit beruht die Annahme, die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage und genügt den revisionsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die richterliche Überzeugungsbildung nicht[5]. Dadurch verfehlt das Verwaltungsgericht nicht nur das von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit, sondern verstößt zugleich gegen materielles revisibles Recht. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt tatbestandlich eine begründete Furcht vor Verfolgung voraus. Das Tatsachengericht muss sich – auch in Ansehung der „asyltypischen“ Tatsachenermittlungs- und -bewertungsprobleme – die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen. Kommt es dem bei der Verfolgungsprognose hinsichtlich der notwendigen Berücksichtigung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat nicht nach, so steht seine Entscheidung weder mit der Zielsetzung des Flüchtlingsrechts noch mit den maßgeblichen unionsrechtlichen Vorgaben im Einklang[6]

In den Fällen, in denen der Antrag eines Schutzsuchenden nicht bereits als unzulässig abgelehnt werden kann, besteht zunächst die Pflicht der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates, eine individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorzunehmen und hierbei die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang zu berücksichtigen. Die Behörde des Mitgliedstaates, die über den neuen Antrag zu entscheiden hat, muss daher unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates einleiten, der dem Antragsteller zuvor die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe. Hierbei muss sie die andere Behörde über den neuen Antrag informieren, ihr ihre Stellungnahme zu dem neuen Antrag übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zu übermitteln[7].

Die Verpflichtung, die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates sowie die ihr zugrunde liegenden Anhaltspunkte bei der Entscheidung über einen Asylantrag zu berücksichtigen, gilt indes nicht nur für die zur Entscheidung über den Asylantrag berufenen Behörden, sondern erstreckt sich auf ein sich anschließendes verwaltungsgerichtliches Verfahren. Dies folgt aus der Verpflichtung der Gerichte zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO und zur Herstellung der Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Zwar kann die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens mit der hervorgehobenen Stellung des behördlichen Verfahrens und den daran anknüpfenden Verfahrensgarantien in besonderen Fallkonstellationen eine Ausnahme von der genannten Verpflichtung rechtfertigen[8]. Eine solche Ausnahmesituation, die etwa bei einem Unterbleiben der Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen durch das Bundesamt anzunehmen ist, liegt hier jedoch nicht vor. Die unionsrechtlich gebotene Ergänzung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen kann im gerichtlichen Verfahren erfolgen.

Im hier entschiedenen Fall hat die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands hat bei der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht die unionsrechtlich gebotene inhaltliche Berücksichtigung gefunden. Ein auf die in Griechenland getroffene Entscheidung bezogener Informationsaustausch zwischen dem Bundesamt und den für Asylverfahren zuständigen griechischen Behörden im vorgenannten Sinne ist weder im Asylverfahren noch im gerichtlichen Verfahren erfolgt. Auch auf anderem Wege – etwa durch eine Vorlage entsprechender Unterlagen durch die Kläger oder ihren Sohn – ist die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands nebst den Anhaltspunkten, auf denen sie beruht, nicht zum Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens geworden.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. März 2025 – 1 C 5.24

  1. vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.09.2022 – 1 C 26.21 10 f. m. w. N.[]
  2. vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.09.2022 – 1 C 26.21 12 ff.[]
  3. EuGH, Urteil vom 18.06.2024 – C-753/22, Rn. 56[]
  4. EuGH, Urteil vom 18.06.2024 – C-352/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2024:​​521], Generalstaatsanwaltschaft Hamm[]
  5. vgl. BVerwG, Urteil vom 24.04.2024 – 1 C 8.23 16[]
  6. vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2023 – 1 C 22.21, BVerwGE 177, 289 Rn. 42[]
  7. EuGH, Urteil vom 18.06.2024 – C-753/22, Rn. 78[]
  8. BVerwG, Urteil vom 15.04.2019 – 1 C 46.18, Buchholz 402.251 § 33 AsylG Nr. 1 Rn.20[]