Das Bundesverwaltungsgericht hat dem Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV auf einen Unionsbürger anwendbar ist, der seit seiner Geburt die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzt und sich in den ersten zwölf Jahren seines Lebens in dem einen und sodann in dem anderen der beiden Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, sodass dieser Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen, mit dem er zeitweise verheiratet war und sich gemeinsam in dem zweiten Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann.

In dem zugrundeliegenden Verfahren ging es um einen algerischen Staatsangehörigen, der im Jahr 2009 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste. Der von ihm gestellte Asylantrag blieb erfolglos. Seitdem ist er im Besitz von Duldungen. Er ist verschiedentlich strafrechtlich in Erscheinung getreten und befand sich mehrfach in Untersuchungs- und Strafhaft sowie im Maßregelvollzug. Die frühere Ehefrau des Algeriers, mit der er zwischen 2017 und 2021 verheiratet war, lebte bis 2008 in Polen und siedelte sodann im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland über, wo sie sich seitdem aufhält. Sie ist seit ihrer Geburt polnische Staatsangehörige. Erst nach ihrer Übersiedelung nach Deutschland stellte sich heraus, dass sie – ebenfalls seit ihrer Geburt – auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Der Algerier und seine frühere Ehefrau sind Eltern dreier minderjähriger, seit ihrer Geburt in Deutschland lebender Kinder deutscher und möglicherweise auch polnischer Staatsangehörigkeit. Sie hielten sich im zeitlichen Zusammenhang mit ihrer 2017 erfolgten Eheschließung gemeinsam mit zweien ihrer Kinder mehrfach für Zeiträume von einigen Tagen oder wenigen Wochen, die jedoch nie die Dauer von drei Monaten erreichten, gemeinsam in Polen auf.
Der Algerier beantragte im Jahr 2018 die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Nach Ablehnung dieses Antrags hat er Klage erhoben, die das erstinstanzlich hiermit befasste Verwaltungsgericht Sigmaringen abgewiesen hat[1]. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat auch die Berufung des Algeriers zurückgewiesen[2]. Dieser habe keinen Anspruch auf eine Aufenthaltskarte. Er sei kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Die Vorschriften dieses Gesetzes fänden auf ihn auch nicht nach § 12a FreizügG/EU entsprechende Anwendung, da die frühere Ehefrau und die Kinder des Algeriers von ihrem Recht auf Freizügigkeit nicht nachhaltig Gebrauch gemacht hätten. Dem Algerier stehe ferner weder ein unmittelbar aus Art. 21 AEUV noch ein aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu.
Hiergegen richtet sich die Revision des Algeriers. Er sei Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigter Personen. Seine frühere Ehefrau und seine Kinder seien als Staatsangehörige zweier Mitgliedstaaten freizügigkeitsberechtigt. Der hierfür allein erforderliche grenzüberschreitende Bezug sei jedenfalls in Gestalt der Übersiedelung seiner früheren Ehefrau nach Deutschland gegeben.
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Rechtsstreit nun zunächst ausgesetzt, weil sein Ausgang von einer vorab einzuholenden Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Auslegung der Verträge abhängt (Art. 267 AEUV). Die Frage betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgender Frage eingeholt:
Ist Art. 21 Abs. 1 AEUV auf einen Unionsbürger anwendbar, der seit seiner Geburt die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzt und sich in den ersten zwölf Jahren seines Lebens in dem einen und sodann in dem anderen der beiden Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, sodass dieser Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen, mit dem er zeitweise verheiratet war und sich gemeinsam in dem zweiten Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann?
Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Der Algerier kann von seiner früheren Ehefrau ein Aufenthaltsrecht nur dann ableiten, wenn sie unabhängig davon, dass sie nicht nur die polnische, sondern auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, nach Art. 21 Abs. 1 AEUV freizügigkeitsberechtigt ist. Seine Kinder können dem Algerier kein Aufenthaltsrecht vermitteln. Ebenso steht dem Algerier kein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zu. Ein Anspruch des Algeriers auf ein Aufenthaltsrecht aus Art.20 AEUV[3] ist bereits von den Vorinstanzen rechtskräftig verneint worden und daher nicht mehr Gegenstand des Rechtsstreits.
Der Algerier hat keinen unmittelbaren Anspruch auf eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Die Norm ist auf den Algerier nicht unmittelbar anwendbar, weil er nicht Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Sinne dieser Vorschrift ist. Das sind nur Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die nicht Deutsche sind (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Nach dem Willen des Gesetzgebers sind Aufenthaltsrechte von Familienangehörigen Deutscher allein in § 1 Abs. 1 Nr. 6 und § 12a FreizügG/EU geregelt[4]. Die hier in Betracht kommenden Personen, von denen der Algerier ein Aufenthaltsrecht ableiten möchte, sind sämtlich Deutsche.
Ein Anspruch des Algeriers könnte indes aus § 12a i. V. m. § 3 Abs. 4 FreizügG/EU folgen. Danach finden auf Familienangehörige von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht haben, die nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU für Familienangehörige von Unionsbürgern geltenden Regelungen entsprechende Anwendung. Zu diesen entsprechend anwendbaren Vorschriften gehört nicht nur § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, sondern auch § 3 Abs. 4 FreizügG/EU. Aufgrund der zuletzt genannten Vorschrift, die Art. 13 RL 2004/38/EG umsetzt, behalten Ehegatten, die nicht Unionsbürger sind, bei Scheidung der Ehe unter bestimmten Voraussetzungen ein Aufenthaltsrecht. Die Ehe des Algeriers und seiner Ehefrau ist seit dem 18.06.2021 rechtskräftig geschieden.
Voraussetzung eines solchen Rechts ist, dass der Deutsche, von dem das Aufenthaltsrecht abgeleitet wird, von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV Gebrauch gemacht hat. Ob dies bei der früheren Ehefrau des Algeriers der Fall ist, bedarf der Klärung durch den Gerichtshof.
Nach dessen Rechtsprechung fällt ein Unionsbürger, soweit er noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG, sodass diese Richtlinie auf ihn nicht anwendbar ist. Allein dass ein Bürger die Staatsangehörigkeit mehr als eines Mitgliedstaats besitzt, bedeutet insoweit nicht, dass er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte. Damit fällt auch der Ehegatte eines solchen Unionsbürgers nicht unter den Begriff des Berechtigten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Auf einen Unionsbürger in dieser tatsächlichen Situation ist zudem Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht anwendbar, sofern die Situation dieses Bürgers nicht von der Anwendung von Maßnahmen eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirken, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde[5].
Anders verhält es sich hingegen, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von seinem Recht auf Freizügigkeit dergestalt Gebrauch macht, dass er sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort zu leben. Erwirbt dieser Staatsangehörige dann die Staatsangehörigkeit des weiteren Mitgliedstaats, so entfällt die Eigenschaft als Berechtigter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG, und diese Richtlinie ist nicht mehr auf den Betroffenen anwendbar[6]. Jedoch besteht bei Personen in dieser Lage ein Bezug zum Unionsrecht. Sie haben in ihrer Eigenschaft als Unionsbürger von ihrem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht und können sich auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen, und zwar auch gegenüber einem dieser beiden Mitgliedstaaten. Zu diesen Rechten gehört es, im Aufnahmemitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen und mit den Familienangehörigen zusammenzuleben. Der Erwerb der weiteren Staatsangehörigkeit führt nicht zu einem Verlust dieses Rechts. Ein Mitgliedstaat darf die Wirkungen, die der Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats hat, nicht einschränken, und insbesondere auch nicht die Rechte, die nach dem Unionsrecht mit dieser Staatsangehörigkeit verbunden sind und sich daraus ergeben, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Daher ist dem drittstaatsangehörigen Ehegatten in diesem Fall ein Recht auf Freizügigkeit zu gewähren[7].
Ausgehend von dieser Rechtsprechung stellt sich die Frage, ob ein Unionsbürger dadurch, dass er sich dauerhaft aus einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er von Geburt an besitzt, in einen weiteren Mitgliedstaat begibt, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls von Geburt an besitzt, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht und einem Drittstaatsangehörigen wie dem Algerier ein Aufenthaltsrecht vermitteln kann.
Gegen ein solches Verständnis spricht, dass ein Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen schon nach völkerrechtlichen Grundsätzen das Recht nicht verwehren kann, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und dort zu bleiben; diese Staatsangehörigen verfügen folglich über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht[8]. Auch bedarf es in solchen Fällen nicht unbedingt der Förderung der Integration des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat, die eine der Zielsetzungen des Art. 21 Abs. 1 AEUV darstellt[9].
Für das Bundesverwaltungsgericht ist zudem nicht erkennbar, dass die Situation der früheren Ehefrau des Algeriers von der Anwendung von Maßnahmen eines Mitgliedstaats begleitet gewesen ist, die bewirkt haben, dass ihr der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert worden und deswegen Art. 21 Abs. 1 AEUV auf sie anzuwenden wäre[10].
Diese Erwägungen sprechen dafür, einen Unionsbürger in der Situation, in der sich die frühere Ehefrau des Algeriers befindet, allein nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts zu behandeln.
Andererseits besteht bei Personen in der Situation der früheren Ehefrau des Algeriers, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, aber gleichwohl ein Bezug zum Unionsrecht[11]. In den sachlichen Anwendungsbereich des danach zu berücksichtigenden Unionsrechts fallen auch Situationen, in denen es um die Ausübung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehenen Freiheit geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Dem steht nicht entgegen, dass die Betroffenen Angehörige nicht nur des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhalten, sondern zugleich eines weiteren Mitgliedstaats sind[12].
Daher stellt sich die Frage, ob es der tatsächlichen und rechtlichen Situation der in Rede stehenden Personengruppe gerecht wird, sie genauso zu behandeln wie einen Bürger des Aufnahmemitgliedstaats, der diesen niemals verlassen hat. Die Notwendigkeit einer Beantwortung dieser Frage wird im vorliegenden Fall deswegen besonders deutlich, weil sich erst nach der Übersiedelung der früheren Ehefrau des Algeriers nach Deutschland herausgestellt hat, dass sie nicht nur die polnische, sondern – ebenfalls von Geburt an – die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Sowohl sie selbst als auch die deutschen Behörden waren bei ihrer Einreise noch der Auffassung, sie mache von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch.
Ein solcher Unionsbürger, der sich nacheinander in zwei Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er seit seiner Geburt besitzt, langfristig aufhält, würde hinsichtlich seines Familienlebens schlechter behandelt als ein Unionsbürger, der nur die Staatsangehörigkeit seines Herkunftslandes besitzt; die einem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat zustehenden Rechte einschließlich des Rechts, ein Familienleben mit einem Drittstaatsangehörigen zu führen, würden sich also verringern, je besser er bereits bei seiner Einreise in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats integriert ist und je mehr Staatsangehörigkeiten er besitzt[13]. Eine nationale Regelung, durch die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt werden, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt[14]. Diese Erwägung könnte möglicherweise auch auf Personen in der Situation der früheren Ehefrau des Algeriers Anwendung finden.
Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat sich schließlich auch die Europäische Kommission dafür ausgesprochen, Personen, die von Geburt an die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten der Europäischen Union besitzen und die sich in beiden Staaten aufgehalten haben, mit solchen Personen gleichzustellen, die die Staatsangehörigkeit eines weiteren Mitgliedstaats erst während ihres Aufenthalts in diesem Staat erworben haben[15].
Die richtige Anwendung des Unionsrechts im Hinblick auf die frühere Ehefrau des Algeriers ist damit nicht derart offenkundig, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt. Dies erfordert ein Verfahren nach Art. 267 AEUV.
Ein Aufenthaltsrecht kann der Algerier hingegen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht von seinen Kindern ableiten.
Das gilt zunächst für einen Anspruch aus § 12a FreizügG/EU. Bislang ist nicht geklärt, ob die Kinder des Algeriers neben der deutschen auch die polnische Staatsangehörigkeit besitzen; die Beantwortung dieser Frage ist dem Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht verwehrt. Selbst wenn die polnische Staatsangehörigkeit der Kinder des Algeriers unterstellt würde, könnten sie dem Algerier kein Aufenthaltsrecht vermitteln, weil sie sich bislang nahezu ausschließlich in Deutschland aufgehalten haben[16].
Lediglich im Zusammenhang mit der Eheschließung des Algeriers und seiner früheren Ehefrau haben sich zwei der Kinder gemeinsam mit ihren Eltern mehrfach für einige Tage oder für wenige Wochen in Polen aufgehalten. Auch wenn man annimmt, als Doppelstaater stünde ihnen grundsätzlich ein Recht auf Freizügigkeit zu, hätten sie davon aber noch nicht im Sinne des § 12a FreizügG/EU nachhaltig Gebrauch gemacht. Denn es fehlt an einer hinreichenden Verfestigung ihres Aufenthalts in Polen, die dazu führen könnte, dass sie anschließend ihrem Vater ein Aufenthaltsrecht in Deutschland vermitteln könnten[17].
Dem Algerier steht ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgendes Aufenthaltsrecht in Deutschland auch nicht als Elternteil zu, der für minderjährige Unionsbürger tatsächlich sorgt. Ein solches Aufenthaltsrecht setzt voraus, dass die Kinder ausschließlich eine andere Staatsangehörigkeit besitzen als diejenige des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhalten[18]. Das trifft auf die Kinder des Algeriers nicht zu. Vielmehr leben sie seit ihrer Geburt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Ein Anlass, die praktische Wirksamkeit eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts zu sichern[19], besteht daher nicht.
Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts hat der Algerier auch kein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011.
Nach dieser Vorschrift können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Norm begründet in erster Linie ein Recht auf Gleichbehandlung. Aus dem Recht zur Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung folgt zugleich ein Recht der Kinder des Wanderarbeitnehmers auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme. Ein entsprechendes Recht vermittelt Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zudem dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die betreffenden Kinder tatsächlich wahrnimmt, ohne dass dieser die in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen erfüllen muss. Das Aufenthaltsrecht ist der Förderung der Inanspruchnahme des Rechts der Kinder auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht zu dienen bestimmt. Es endet regelmäßig mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes, sofern dieses nicht ausnahmsweise weiterhin der Anwesenheit und Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können. Ein durch Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 begründetes Freizügigkeitsrecht wird von § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erfasst[20].
Ein solches Recht besteht nur dann, wenn es zur Sicherung der Gleichbehandlung der Kinder eines Wanderarbeitnehmers mit Kindern von Arbeitnehmern im Aufnahmestaat erforderlich ist. Der Status eines Wanderarbeitnehmers setzt voraus, dass der Betroffene von seinem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat[21]. Die Freizügigkeit wäre nicht voll verwirklicht, wenn ein Mitgliedstaat die Berufung auf die Vorschriften des Unionsrechts denjenigen seiner Staatsangehörigen verwehren könnte, die in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzen, niedergelassen sind und die vom Unionsrecht gebotenen Möglichkeiten nutzen, um im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staats ihre Tätigkeit auszuüben[22]. Nationale Bestimmungen, die einen Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger seines Herkunftslandes ist, daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar[23].
Die frühere Ehefrau des Algeriers ist indessen schon als Kind nach Deutschland eingereist; ihre Übersiedelung nach Deutschland erfolgte nicht zu dem unmittelbaren Zweck, in Deutschland eine Berufstätigkeit aufzunehmen. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher der Auffassung, dass die frühere Ehefrau des Algeriers noch nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht hat und nicht als Wanderarbeitnehmerin anzusehen ist.
Zudem vermittelt Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 den Kindern eines Wanderarbeitnehmers einen Anspruch auf Gleichbehandlung beim Zugang zur Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat mit dessen Staatsangehörigen. Daraus folgt, dass sich auch die Personen, die die Personensorge bei diesen Kindern tatsächlich wahrnehmen, im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten dürfen[24]. Die Kinder des Algeriers bedürfen aber, selbst wenn ihre Mutter als Wanderarbeitnehmerin anzusehen wäre, keiner Gleichbehandlung mit deutschen Kindern, da sie selbst bereits Deutsche sind und schon deswegen alle aus dieser Staatsangehörigkeit folgenden Rechte wahrnehmen können. Auch aus diesem Grund können sie dem Algerier kein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vermitteln.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 27. Februar 2025 – 1 C 18.23
- VG Sigmaringen, Urteil vom 29.03.2021 – 7 K 4814/20[↩]
- VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.07.2023 – 12 S 1835/21[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 10.05.2017 – C-133/15 [ECLI:EU:C:2017:354], Chavez-Vilchez, Rn. 59 ff.[↩]
- BT-Drs.19/21750 S. 35 ff.[↩]
- EuGH, Urteil vom 05.05.2011 – C-434/09 [ECLI:EU:C:2011:277], McCarthy, Rn. 39 ff., 56[↩]
- EuGH, Urteil vom 14.11.2017 – C-165/16 [ECLI:EU:C:2017:862], Lounes, Rn. 38 ff.[↩]
- EuGH, Urteil vom 14.11.2017 – C-165/16, Rn. 50 ff.[↩]
- EuGH, Urteil vom 14.11.2017 – C-165/16, Rn. 37[↩]
- vgl. dazu EuGH, Urteil vom 14.11.2017 – C-165/16, Rn. 56 f.[↩]
- vgl. dazu EuGH, Urteil vom 05.05.2011 – C-434/09, Rn. 49, 57[↩]
- EuGH, Urteil vom 08.06.2017 – C-541/15 [ECLI:EU:C:2017:432], Freitag, Rn. 34[↩]
- EuGH, Urteil vom 02.10.2003 – C-148/02 [ECLI:EU:C:2003:539], Garcia Avello, Rn. 24 ff., 28[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 14.11.2017 – C-165/16, Rn. 54 und 59[↩]
- EuGH, Urteil vom 02.06.2016 – C-438/14 [ECLI:EU:C:2016:401], Bogendorff von Wolffersdorff, Rn. 36[↩]
- vgl. Leitfaden zum Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger und ihrer Familien vom 22.12.2023, ABl.EU C/2023/1392 S. 8 und das dort genannte Beispiel „Y.“[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 05.05.2011 – C-434/09, Rn. 44 ff.[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 12.03.2014 – C-456/12 [ECLI:EU:C:2014:135], O. und B., Rn. 51 ff.[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 19.10.2004 – C-200/02 [ECLI:EU:C:2004:639], Zhu und Chen, Rn. 18 ff.[↩]
- vgl. zu dieser Zielsetzung EuGH, Urteile vom 19.10.2004 – C-200/02, Rn. 45; und vom 10.10.2013 – C-86/12 [ECLI:EU:C:2013:645], Alokpa, Rn. 34[↩]
- BVerwG, Urteil vom 11.09.2019 – 1 C 48.18 [ECLI:DE:BVerwG:2019:110919U1C48.18.0], BVerwGE 166, 251 Rn.19, 29[↩]
- EuGH, Urteile vom 23.02.1994 – C-419/92 [ECLI:EU:C:1994:62], Scholz, Rn. 9; und vom 12.05.1998 – C-336/96 [ECLI:EU:C:1998:221], Gilly, Rn. 21[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 19.01.1988 – 292/86 [ECLI:EU:C:1988:15], Gullung, Rn. 12[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 09.11.2006 – C-520/04 [ECLI:EU:C:2006:703], Turpeinen, Rn. 15[↩]
- vgl. zum Vorstehenden im Einzelnen EuGH, Urteile vom 17.09.2002 – C-413/99 [ECLI:EU:C:2002:493], Baumbast und R., Rn. 68 ff.; und vom 23.02.2010 – C-480/08 [ECLI:EU:C:2010:83], Teixeira, Rn. 44 ff.[↩]








