Das Bundesverfassungsgericht und der Grundsatz der Unionstreue

In einem verfassungsgerichtlichen Verfahren der (abstrakten) Normenkontrolle ist die Rüge eines Verstoßes gegen europäisches Unionsrecht unzulässig.

Das Bundesverfassungsgericht und der Grundsatz der Unionstreue

Zwar handelt es sich bei Art. 23 Abs. 1 GG um eine Norm des Grundgesetzes, die im Normenkontrollverfahren Prüfungsmaßstab sein kann. Wird jedoch der angenommene Verstoß gegen diese Norm und den aus ihr abzuleitenden Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes der Sache nach allein damit begründet, dass die zur Prüfung gestellte Verordnung gegen europäisches Unionsrecht verstoße, so kann der Antragsteller mit diesem Vorbringen – und der damit hilfsweise verbundenen Anregung einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union – sie nicht gehört werden.

Maßstab der Prüfung von Bundesrecht im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist allein das Grundgesetz (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 78 Satz 1 BVerfGG). Auch stellt ein möglicher Verstoß gegen Unionsrecht die Gültigkeit einer innerstaatlichen Norm nicht in Frage[1].

Für die Prüfung, ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts mit einer Bestimmung des Unionsrechts unvereinbar ist, ist das Bundesverfassungsgericht daher nicht zuständig[2].

Dieser Prüfungsmaßstab wird weder durch Art. 23 Abs. 1 GG und die darin zum Ausdruck gebrachte Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes erweitert[3] noch für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle dadurch modifiziert, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren ohne Zusammenhang mit einem Verfahren vor den Fachgerichten entscheidet, in dem eine Vorlage gegebenenfalls erfolgen könnte und müsste[4].

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 1. April 2014 – 2 BvF 1/12 – 2 BvF 3/12

  1. vgl. BVerfGE 126, 286, 301 f.[]
  2. vgl. BVerfGE 31, 145, 174 f.; 82, 159, 191; 110, 141, 155; 114, 196, 220; BVerfG, Urteil vom 28.01.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a.[]
  3. vgl. BVerfGE 110, 141, 155; Kaiser/Schübel-Pfister, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, Berlin 2011, S. 545, 568 f.[]
  4. vgl. BVerfGE 114, 196, 220[]