Die Liberalisierung des Eisenbahnsektors in der Europäischen Union

Gegen die unionsrechtlichen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahnverkehrs haben Ungarn und Spanien dadurch verstoßen, dass Ungarn den beiden traditionellen Eisenbahnunternehmen MÁV und GySEV – und nicht einer unabhängigen Stelle – die Verwaltung des Verkehrs übertragen hat und die spanischen Rechtsvorschriften, die bei der Zuweisung von Fahrwegkapazitäten im Fall sich überschneidender Anträge für dieselbe Fahrplantrasse oder einer Überlastung des Netzes auf das Kriterium der tatsächlichen Nutzung des Netzes abstellen, der Richtlinie 2001/14 zuwiderlaufen. Dagegen stehen die einschlägigen österreichischen und deutschen Rechtsvorschriften über die jeweiligen Infrastrukturbetreiber – ÖBB – Infrastruktur bzw. Deutsche Bahn Netz –, die sie in eine Holding integriert haben.

Die Liberalisierung des Eisenbahnsektors in der Europäischen Union

So hat der Gerichtshof der Europäischen Union in den hier vorliegenden Fällen entschieden, die zu einer Reihe von Vertragsverletzungsklagen[1] gehören, die die Kommission der Europäischen Union gegen mehrere Mitgliedstaaten wegen Nichterfüllung ihrer Verpflichtungen aufgrund der Richtlinien zur Regelung der Funktionsweise des Eisenbahnsektors[2] erhoben hat.

Aufgrund der Liberalisierung des Eisenbahnsektors in der Europäischen Union müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Unternehmen dieses Sektors einen gerechten und diskriminierungsfreien Zugang zum Eisenbahnnetz erhalten. In diesem Kontext dürfen bestimmte als wesentlich erachtete Funktionen nicht mehr von den traditionellen Eisenbahnunternehmen der Mitgliedstaaten wahrgenommen werden, sondern müssen unabhängigen Betreibern übertragen werden. Zu diesen Funktionen gehören namentlich die Erteilung von Genehmigungen für Eisenbahn unternehmen, die ihnen Zugang zum Eisenbahnnetz verschaffen, die Zuweisung von Zugtrassen und die Berechnung des von den Verkehrsunternehmen für die Nutzung des Netzes zu entrichtenden Entgelts.

C – 473/10, Kommission/Ungarn

Im Rahmen der Zuweisung von Zugtrassen wirft die Kommission Ungarn vor, den beiden traditionellen Eisenbahnunternehmen MÁV und GySEV – und nicht einer unabhängigen Stelle – die Verwaltung des Verkehrs
übertragen zu haben.

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass die wesentliche Funktion der Trassenzuweisung Tätigkeiten administrativer Art umfasst, die im Kern die Planerstellung, die Festlegung des Netzfahrplans und die Ad-hoc-Zuweisung einzelner Zugtrassen betreffen. Demgegenüber umfasst die Verkehrsverwaltung Tätigkeiten, die zum Betrieb der Infrastruktur gehören, und besteht nicht in Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen, sondern in der Umsetzung oder Durchführung dieser Entscheidungen. Folglich kann die Verkehrsverwaltung nicht als eine wesentliche Funktion angesehen werden und darf mithin, wie in Ungarn, Eisenbahnunternehmen übertragen werden. Des Weiteren ist zwar die Berechnung des Entgelts, das die Verkehrsunternehmen für die Nutzung des Netzes zu entrichten haben, eine wesentliche Funktion, doch dürfen die bloße Erhebung des Entgelts und die Ausstellung der Rechnungen darüber den traditionellen Unternehmen übertragen werden.

Dagegen sieht der Gerichtshof der Europäischen Union einen Verstoß Ungarns gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 2001/14 darin , dass es nicht die Bedingungen, die für die Betreiber der Infrastruktur ausgeglichene Einnahmen und Ausgaben gewährleisten, festgelegt und auch keine Anreize zur Senkung der mit Betrieb und Nutzung der Infrastruktur in Zusammenhang stehen den Kosten und Entgelte geschaffen hat. Außerdem gelangt der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Ergebnis, dass Ungarn gegen die genannte Richtlinie verstoßen hat, weil es nicht gewährleistet hat, dass die von den Betreibern der Infrastruktur erhobenen Entgelte den unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallenden Kosten entsprechen.

C – 483/10, Kommission/Spanien

In Bezug auf diese Klage erinnert der Gerichtshof der Europäischen Union zunächst daran, dass die Mitgliedstaaten zwar für die Bestimmung des normativen Entgeltrahmens zuständig sind, aber die Unabhängigkeit der Geschäftsführung des Betreibers der Infrastruktur beachten und ihm die Aufgabe der Berechnung des für die Nutzung des Schienennetzes zu entrichten den Entgelts übertragen müssen. Insoweit stuft der Gerichtshof der Europäischen Union es als unvereinbar mit der Richtlinie 2001/14 ein, dass Spanien dem Staat das Recht vorbehalten hat, dieses Entgelt zu berechnen.

Sodann hebt der Gerichtshof der Europäischen Union hervor, dass die Mitgliedstaaten in die Entgeltregelung leistungsabhängige Bestandteile zur Minimierung von Störungen und zur Erhöhung der Leistung des Schienennetzes aufnehmen müssen. Zwar sehen die spanischen Rechtsvorschriften die Möglichkeit vor, Belangen der Verbesserung des Netzes und seiner Entwicklung Rechnung zu tragen, doch genügt dies nicht dem Erfordernis der tatsächlichen Einführung leistungsabhängiger Bestandteile.

Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet außerdem, dass die spanischen Rechtsvorschriften, nach denen die Behörden bei einer Überschneidung der Anträge für dieselbe Fahrplantrasse oder bei Überlastung des Netzes befugt sind, Zuweisungsprioritäten für die unterschiedlichen Verkehrsarten auf jeder Linie unter besonderer Berücksichtigung der Güterverkehrsdienste festzulegen, der Richtlinie 2001/14 zuwiderlaufen. Diese sieht nämlich ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten spezifische Regeln für die Zuweisung von Fahrwegkapazität festlegen müssen und dass allein der Betreiber der Infrastruktur in bestimmten Fällen bestimmten Verkehrsart en Vorrang einräumen kann.

Schließlich stellt der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass die spanischen Rechtsvorschriften, die bei der Zuweisung von Fahrwegkapazitäten im Fall sich überschneidender Anträge für dieselbe Fahrplantrasse oder einer Überlastung des Netzes auf das Kriterium der tatsächlichen Nutzung des Netzes abstellen, der Richtlinie 2001/14 zuwiderlaufen, da die Berücksichtigung der tatsächlichen Nutzung des Netzes nicht den Abschluss eines Rahmenvertrags voraussetzt. Nach der Richtlinie 2001/14 dürfen nämlich Zugtrassen maximal für die Dauer einer Netzfahrplanperiode genutzt werden, es sei denn, der Betreiber der Infrastruktur und das Eisenbahnunternehmen haben gemäß dieser Richtlinie einen Rahmenvertrag geschlossen. Außerdem entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union, dass ein solches Zuweisungskriterium insofern diskriminierend ist, als es dazu führt, dass die Vorteile für die herkömmlichen Nutzer aufrechterhalten werden und der Zugang zu den attraktivsten Trassen für neue Marktteilnehmer blockiert wird.

C – 555/10, Kommission/Österreich, und C – 556/10, Kommission/Deutschland

Die Klagen der Kommission gegen Österreich und Deutschland weist der Gerichtshof der Europäischen Union zur
Gänze ab.

Die Kommission der Europäischen Union hat geltend gemacht, die Richtlinien gestatteten es den Mitgliedstaaten nicht, den unabhängigen Betreiber in eine Holding, der auch Eisenbahnunternehmen angehörten, zu integrieren, es sei denn, sie sähen zusätzliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Geschäftsführung vor. Österreich und Deutschland hätten derartige Maßnahmen aber nicht erlassen, als sie ihren jeweiligen Infrastrukturbetreiber – ÖBB – Infrastruktur bzw. Deutsche Bahn Netz – in eine Holding integriert hätten.

Diese Rüge weist der Gerichtshof der Europäischen Union zurück. Er weist darauf hin, dass ÖBB – Infrastruktur und Deutsche Bahn Netz, um die Entgelt – und Zuweisungsfunktionen wahrnehmen zu können, von der Holding rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen unabhängig sein müssen. Tatsächlich verfügen diese beiden Gesellschaften über eine gesonderte Rechtspersönlichkeit sowie über eigene Organe und Mittel, die sich von denjenigen ihrer jeweiligen Holding unterscheiden. Im Übrigen stellt der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass in den angeführten Richtlinien die weiteren von der Kommission geforderten Maßnahmen nicht erwähnt werden, so dass ihr Erlass von den Mitgliedstaaten nicht verlangt werden kann.

Der Gerichtshof der Europäischen Union weist ferner das Vorbringen der Kommission zurück, wonach Deutschland gegen seine Verpflichtungen in Bezug auf die Wegeentgelte und auf die Schaffung eines Mechanismus zur Beschränkung der mit der Fahrwegbereitstellung verbundenen Kosten und zur Senkung der Zugangsentgelte verstoßen habe.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteile vom 28. Februar 2013 – C-473/10, C-483/10, C-555/10 und C-556/10, [Kommission / Ungarn, Spanien, Österreich und Deutschland]

  1. Es handelt sich um die Rechtssachen Kommission/Ungarn (C-473/10), Kommission/Spanien (C-483/10), Kommission/Polen (C-512/10), Kommission/Griechenland (C-528/10), Kommission/Tschechische Republik (C-545/10), Kommission/Österreich (C-555/10), Kommission/Deutschland (C – 556/10), Kommission/Portugal (C – 557/10), Kommission/Frankreich (C – 625/10), Kommission/Slowenien (C – 627/10 ), Kommission/Italien (C – 369/11) und Kommission/Luxemburg (C – 412/11) []
  2. Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. L 237, S. 25) in der durch die Richtlinie 2001/12/EG geänderten Fassung und Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. L 75, S. 29) in der durch die Richtlinien 2004/49/EG und 2007/58/EG geänderten Fassung[]