Fehlerhafte Umsetzung von EU-Richtlinien und die Bestandskraft von Steuerbescheiden

Mit Ablauf der Rechtsbehelfsfristen wird ein Steuerbescheid bestandskräftig, so dass er, abgesehen von im Gesetz eng umrissenen Ausnahmefällen oder einem im Steuerbescheid evtl. enthaltenen Vorbehalt der Nachprüfung, nicht mehr beliebig geändert werden kann. Diese Bestandskraft schützt der Bundesfinanzhof nun auch gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Eine Durchbrechung der Bestandskraft eines Steuerbescheides ist nach einem aktuellen Urteil des Bundesfinanzhofs auch dann nicht möglich, wenn aufgrund eines Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union feststeht, dass eine EU-Richtlinie in Deutschland fehlerhaft umgesetzt wurde, und der Steuerbescheid auf dieser fehlerhaften Umsetzung der EU-Richtlinie beruht.

Fehlerhafte Umsetzung von EU-Richtlinien und die Bestandskraft von Steuerbescheiden

Ein Steuerbescheid ist auch bei einem erst nachträglich erkannten Verstoß gegen das Unionsrecht nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend. Nach den Vorgaben des Unionsrechts muss das steuerrechtliche Verfahrensrecht auch keine weitergehenden Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide vorsehen.

Entschieden hat dies der Bundesfinanzhof jetzt anhand der Umsatzbesteuerung von Geldspielautomaten: Danach sind die Betreiber von Glücksspielautomaten nicht berechtigt, die Steuerfreiheit ihrer Umsätze nach der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern für Zeiträume geltend zu machen, für die bereits bestandskräftige Steuerbescheide ohne Vorbehalt der Nachprüfung vorliegen.

Das Urteil betrifft die früher geltende Rechtslage vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen aus dem Jahr 2006, nach der sich die Betreiber von Glücksspielautomaten gegen die nach nationalem Recht bestehende Steuerpflicht ihrer Leistungen unmittelbar auf eine Steuerfreiheit für Glücksspielumsätze nach der sog. Sechsten EG-Richtlinie berufen konnten, da Deutschland die Sechste EG-Richtlinie fehlerhaft umgesetzt hatte. Die Steuerfreiheit nach der Sechsten EG-Richtlinie ergab sich aus einem im Fbruar 2005 ergangenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften[1]. Die betroffenen Unternehmer waren berechtigt, die sich aus diesem Urteil ergebende Steuerfreiheit auch rückwirkend für die Vergangenheit geltend zu machen.

In dem jetzt durch den Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall ging es um die Frage, ob die sich aus der Sechsten EG-Richtlinie ergebende Steuerfreiheit rückwirkend auch für Besteuerungszeiträume beansprucht werden kann, für die bestandskräftige Steuerbescheide ohne Vorbehalt der Nachprüfung vorliegen.

Der Bundesfinanzhof hat dies jetzt entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung[2] verneint. Die fehlerhafte Umsetzung der Sechsten EG-Richtlinie im nationalen Recht kann danach nur im Rahmen der allgemeinen Rechtsbehelfs- und Korrekturvorschriften für Steuerbescheide, wie sie nach der Abgabenordnung vorgesehen sind, geltend gemacht werden. Der Bundesfinanzhof stützt dies auf die Rechtsprechung des EuGH. Danach kommt es nur darauf an, dass die fehlerhafte Umsetzung des Unionsrechts unter denselben Bedingungen gerügt werden kann, wie eine sich aus dem nationalen Recht ergebende Rechtswidrigkeit. Da für bestandskräftige Steuerbescheide, die nicht unter Vorbehalt der Nachprüfung stehen, nach nationalem Recht keine Korrekturmöglichkeit zur Behebung bloßer Rechtsfehler besteht, konnte die Klägerin die aus dem EU-Recht folgende Steuerfreiheit aus verfahrensrechtlichen Gründen im Streitfall nicht mehr geltend machen.

Keine Nichtigkeit der Steuerbescheide

Die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen sind nicht nichtig.

Gemäß § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Nach § 125 Abs. 2 AO ist ein Verwaltungsakt z.B. nichtig, der die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen lässt, den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt oder der gegen die guten Sitten verstößt.

Im Streitfall liegt kein Nichtigkeitsgrund vor. Ein Verwaltungsakt ist nicht allein deswegen nichtig, weil er der gesetzlichen Grundlage entbehrt oder weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften –auch diejenigen des formellen Rechts (Verfahrensrechts)– unrichtig angewendet worden sind. Der erforderliche besonders schwere Fehler liegt nur vor, wenn er die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen und offenkundigen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt, da die Klägerin selbst in ihren Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre die streitigen Umsätze als steuerpflichtig angesehen hat und das Finanzamt dem gefolgt ist.

Darüber hinaus ist ein Verwaltungsakt nicht allein deswegen nichtig, weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewendet worden sind[3]. Für Verstöße gegen Unionsrecht ergeben sich insoweit keine Besonderheiten[4]. Die Gegenauffassung, nach der ein Verstoß gegen das Unionsrecht stets einen „schweren“ Rechtsfehler begründen soll[5], lässt unberücksichtigt, dass für einen unionsrechtswidrigen Bescheid keine andere Behandlung geboten ist als für einen Bescheid, der auf einer nicht verfassungskonformen Rechtsgrundlage beruht und dessen Bestand hiervon unberührt bleibt (§ 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG)[6].

Einspruchsfrist und „Emmott’schen Fristenhemmung“

Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 1 AO) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde, in den Fällen des § 168 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden der Zustimmung, zu erheben.

Die Klägerin des jetzt vom Bundesfinanzhof entschiedenen Falls hat Einspruch gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993 bis 1998) zu einem Zeitpunkt erhoben, zu dem bereits für alle Streitjahre sowohl die Monatsfrist als auch die –nach Auffassung der Klägerin wegen fehlender Rechtsbehelfsbelehrung anwendbare– Jahresfrist für die Einlegung eines Einspruchs abgelaufen.

Die Versäumung der Einspruchsfrist durch die Klägerin ist nicht aufgrund der sog. „Emmott’schen Fristenhemmung“ unbeachtlich.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften[7]. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern setzt das Vorliegen besonderer Umstände voraus, die sich in der Rechtssache Emmott daraus ergaben, dass ein Bürger eines Mitgliedstaates von dessen Behörden zunächst von der rechtzeitigen Einlegung einer Klage abgehalten und ihm später der Einwand der verspäteten Klageerhebung entgegen gehalten wurde[8]. Eine derartige Fallgestaltung ist im Streitfall nicht gegeben, da die Klägerin nicht daran gehindert war, innerhalb der allgemeinen Fristen ihre Umsatzsteuerfestsetzungen anzufechten[9].

Nach Ansicht des Bundesfinanzhofs ist nach dem Unionsrecht weder die Dauer der Einspruchsfrist zu beanstanden, noch besteht eine Anlaufhemmung bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Klägerin Kenntnis von der EuGH-Entscheidung Linneweber und Akritidis[10] erlangt hat. Das Finanzamt war auch nicht verpflichtet, ihr die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist zu gewähren.

Die Dauer der Einspruchsfrist nach § 355 AO verstößt weder gegen die unionsrechtlichen Vorgaben des Äquivalenz- noch des Effektivitätsprinzips, da nach dem EuGH-Urteil „Germany und Arcor“[11] eine einmonatige Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs angemessen ist[12].

Die Einspruchsfrist beginnt –trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht– mit Bekanntgabe des Steuerbescheids und nicht erst zu dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin Kenntnis von der EuGH-Entscheidung „Linneweber und Akritidis“[10] erlangen konnte.

Das Unionsrecht verlangt auf Grundlage der aus Art. 10 Abs. 1 EG abgeleiteten Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz[13] nur, dass die Mitgliedstaaten die verfahrensrechtlichen Fristen, die zur Durchsetzung des Unionsrechts einzuhalten sind, nicht ungünstiger ausgestalten als in den nur das innerstaatliche Recht betreffenden Verfahren. Weiter darf es nicht praktisch unmöglich sein, eine auf das Unionsrecht gestützte Rechtsposition geltend zu machen. Danach sind Verwaltungsakte, die nach Ablauf einer angemessenen Frist nicht mehr anfechtbar sind, selbst wenn sie gegen das Unionsrecht verstoßen, für die Beteiligten bindend[14].

Die Klägerin beansprucht demgegenüber für sich eine Besserstellung gegenüber den Steuerpflichtigen, die sich auf eine Rechtsposition des innerstaatlichen Rechts berufen können, diese aber nicht kennen und sich nach Ablauf der Einspruchsfrist in § 355 Abs. 1 AO die formelle Bestandskraft der Steuerfestsetzung entgegenhalten lassen müssen.

Die Umstände, dass die Richtlinie 77/388/EWG sich an die Mitgliedstaaten und nicht unmittelbar an den Bürger als Adressaten wende und es bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis[15] nicht vorhersehbar gewesen sei, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar Anwendung finden könne, rechtfertigt nicht den Schluss, dass es „praktisch unmöglich“ war, diese Rechtsposition im Rahmen der „normalen“ Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO durchzusetzen. Denn es kommt nicht darauf an, ob eine nach Erlass eines Bescheids eintretende günstige Rechtsentwicklung auf einer günstigen Richtlinienauslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union oder auf einer anderen Grundlage beruht. Ein Steuerpflichtiger, der mit Rücksicht auf die herrschende Rechtsauffassung zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses von einer Klage abgesehen und es unterlassen hat, die Gerichte selbst von einem Verstoß der Steuerfestsetzung gegen das Unionsrecht zu überzeugen, nimmt den Eintritt der Bestandskraft –auch für den Fall eines späteren Rechtsprechungswandels– bewusst in Kauf[16]. Die Rechtsverfolgung innerhalb der allgemeinen gesetzlichen Fristen ist daher auch bei Fragen des Unionsrechts möglich und zumutbar[17].

Der Klägerin war keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gemäß § 110 AO zu gewähren.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass im Zeitpunkt des Einspruchs, den das Finanzgericht zugleich als Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß § 110 Abs. 1 AO behandelte, mehr als ein Jahr seit dem Ende der versäumten Einspruchsfrist verstrichen war. Das Finanzgericht hat eine Wiedereinsetzung –sowohl auf Antrag der Klägerin als auch von Amts wegen– daher zutreffend bereits im Hinblick auf die gemäß § 110 Abs. 3 AO einzuhaltende Jahresfrist verneint.

Der Auffassung, die Jahresfrist sei unbeachtlich, da die Klägerin bis zum EuGH-Urteil „Linneweber und Akritidis“ weder habe wissen können noch müssen, dass die Steuerbefreiung gemäß Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar zu ihren Gunsten anwendbar sei, schließt sich der Bundesfinanzhof nicht an. Die Klägerin kann sich insoweit nicht auf das BFH-Urteil vom 8. Februar 2001[18] berufen. Diese Entscheidung betraf die Wiedereinsetzung in die prozessuale Antragsfrist gemäß § 68 FGO a.F. Für den Streitfall, in dem es die Klägerin von vornherein unterlassen hat, Rechtsbehelfe gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen einzulegen, lässt sich hieraus nichts ableiten.

Die Klägerin beansprucht vielmehr eine verfahrensrechtliche Besserstellung gegenüber den sich aus dem nationalen Recht ergebenden Rechten, um die auf der Richtlinie 77/388/EWG beruhende Steuerbefreiung durchzusetzen. Das Unionsrecht gebietet es jedoch nicht, die Klägerin verfahrensrechtlich besserzustellen (BFH, Entscheidung in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; EuGH, Urteil [Asturcom Telecomunicationes SL] in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37)).

Keine Änderung des bestandskräftigen Bescheides

Die Klägerin kann auch keine Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen beanspruchen.

Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfen des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde[19].

Zu beachten ist allerdings, dass die für den Erlass einer Verwaltungsentscheidung zuständige Behörde nach dem (für die Streitjahre noch) in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sein kann, ihre Entscheidung zu überprüfen und zurückzunehmen[20].

Für diesen Überprüfungs- und Aufhebungsanspruch müssen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vier „Voraussetzungen“ vorliegen:

  1. Erstens muss die Behörde nach nationalem Recht befugt sein, die bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen.
  2. Zweitens muss die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts gegenüber dem die Änderung begehrenden Steuerpflichtigen bestandskräftig geworden sein.
  3. Drittens muss das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist, obwohl die Voraussetzungen einer Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG (nunmehr Art. 267 AEUV) erfüllt waren.
  4. Viertens muss der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des EuGH erlangt habe, an die Verwaltungsbehörde gewandt haben.

Bereits die erste Voraussetzung, nach der eine nationale Behörde zur Aufhebung oder Änderung eines rechtswidrigen bestandskräftigen Steuerbescheids „befugt“ sein muss, ist im Streitfall nicht erfüllt.

Steuerbescheide im Sinne des § 155 AO können bei nachträglich erkannter Unionsrechtswidrigkeit –wie auch bei einem nachträglich erkannten Verstoß gegen innerstaatliches Recht– auf Grundlage der „Kühne & Heitz“-Grundsätze und den §§ 172 ff. AO nicht geändert werden, da es im steuerrechtlichen Verfahrensrecht an der hierzu erforderlichen Befugnis fehlt[21].

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union[22], der der Bundesfinanzhof folgt, setzt der auf den „Kühne & Heitz-Grundsätzen“ beruhende Anspruch auf Überprüfung oder Änderung rechtskräftiger Entscheidungen voraus, dass das nationale Verfahrensrecht hierfür eine Rechtsgrundlage vorsieht und insoweit das Äquivalenz- sowie das Effektivitätsprinzip beachtet werden. Hiermit stellt der EuGH klar, dass das Unionsrecht weder verlangt, im nationalen Verfahrensrecht einen entsprechenden Überprüfungs- oder Änderungsanspruch für bestandskräftige unionsrechtswidrige Verwaltungsakte vorzusehen, noch, dass aus dem Unionsrecht ein eigenständiger (vom nationalen Recht losgelöster) Überprüfungs- und Änderungsanspruch abgeleitet werden kann[23].

Die fehlende Änderungsmöglichkeit für bestandskräftige unionsrechtswidrige Steuerbescheide in den §§ 172 ff. AO verstößt nicht gegen den unionsrechtlichen Äquivalenzgrundsatz.

Im Streitfall kann offen bleiben, ob auf Grundlage der „Kühne & Heitz-Grundsätze“ im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO bei unionsrechtswidrigen Steuerverwaltungsakten (§ 118 AO) eine Ermessensreduzierung eintreten und ein Überprüfungs- oder Änderungsanspruch bei bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten bestehen kann[24]. Selbst wenn dies zutreffen sollte, verletzt die abweichende Rechtslage bei Steuerbescheiden (vgl. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO) nicht das Äquivalenzprinzip. Der nach nationalem Recht bestehende Dualismus der abgabenrechtlichen Korrekturvorschriften mit voneinander unabhängigen Regelungssystemen –§§ 130, 131 AO einerseits und §§ 172 ff. AO andererseits– ist ein Grundprinzip des steuerrechtlichen Verfahrensrechts[25]. Dem Äquivalenzprinzip wird genügt, wenn innerhalb der verfahrensrechtlich jeweils eigenständigen Änderungsregelungen für rechtswidrige bestandskräftige Steuerverwaltungsakte einerseits und für Steuerbescheide andererseits dieselben Änderungsmöglichkeiten zur Durchsetzung der sich aus dem nationalem Recht und dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche bestehen[26]. Dies ist vorliegend der Fall, da Verstöße gegen innerstaatliches Recht und das Unionsrecht innerhalb der beiden Änderungssysteme jeweils gleich behandelt werden.

Ferner verstößt die fehlende nachträgliche Änderungsmöglichkeit für unionsrechtswidrige Steuerbescheide nicht gegen das Effektivitätsprinzip.

Der Grundsatz der Effektivität ist nicht verletzt, wenn der Steuerpflichtige eine Steuerfestsetzung des Finanzamtes bestandskräftig werden lässt, weil eine künftige Rechtsprechungsänderung des Gerichtshofs der Europäischen Union oder des Bundesfinanzhofs zu seinen Gunsten nicht absehbar ist[27]. Denn durch das Rechtsinstitut der Bestandskraft bezweckt der Gesetzgeber den Eintritt der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Dieser Zweck würde vereitelt, wenn die Bestandskraft nachträglich durchbrochen werden könnte und dies von der regelmäßig schwierig zu beurteilenden Vorhersehbarkeit einer Rechtsprechungsänderung des Europäischen Gerichtshofs oder des Bundesfinanzhofs abhängig gemacht würde. Es ist Sache des Steuerpflichtigen, unter Übernahme des Kostenrisikos seine Chance zur Herbeiführung der Korrektur einer entgegenstehenden Rechtsprechung zu wahren, indem er Rechtsmittel einlegt[17]. Sieht der Steuerpflichtige hiervon ab, nimmt er den Eintritt der Bestandskraft auch für den Fall einer späteren Rechtsprechungsänderung bewusst in Kauf.

Dass nach den von der Klägerin angeführten zivilrechtlichen Entscheidungen eine Haftung von Steuerberatern bis zum EuGH-Urteil „Linneweber und Akritidis“ mangels Verschuldens nicht in Betracht kommen kann, wenn diese auf die Steuerfreiheit der Umsätze nicht hingewiesen hatten, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Der Effektivitätsgrundsatz garantiert nur eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener Frist. Er betrifft das Verfahren, nicht aber die Frage, ob es in der Sache schwierig ist, eine günstige Rechtsentwicklung vorherzusehen und durchzusetzen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die deutschen Einspruchs- und Klagefristen und damit die nationalen verfahrensrechtlichen Regelungen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht beanstandet[28].

Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008[29] ergibt sich ebenfalls nichts anderes. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht dort ausgeführt, der Gerichtshof der Europäischen Union EuGH habe die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet und es sei unklar, welche Bedeutung der vom Europäischen Gerichtshofs in der „Kühne und Heitz-Entscheidung“ aufgestellten Voraussetzung zukomme, die Behörde müsse nach nationalem Recht befugt sein, die Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. Die vom Bundesverfassungsgericht hierzu zitierten Schrifttumsauffassungen beziehen sich aber zu Recht ausschließlich auf die –für Steuerbescheide nicht maßgeblichen– §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 51 VwVfG, die für rechtswidrige unanfechtbare Verwaltungsakte im allgemeinen Verwaltungsrecht wie in § 130 Abs. 1 AO –anders als die §§ 172 ff. AO– unter bestimmten Voraussetzungen eine ermessensgebundene Überprüfungs- und Änderungspflicht vorsehen[30].

Die zweite Voraussetzung der „Kühne & Heitz-Rechtsprechung“ liegt ebenfalls nicht vor. Die Klägerin hat –wie sie selbst einräumt– gegen die bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen nicht die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe[31] ausgeschöpft[32]. Die Gegenauffassung von Meilicke[33], nach der die Rechtslage hinsichtlich dieser Voraussetzung nicht abschließend geklärt sein soll, vermag nicht zu begründen, warum und in welcher Hinsicht nach den Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in Sachen „Germany & Arcor“[34] noch Klärungsbedarf besteht.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat auch nicht im Urteil „Danske Slagterier“[35] von dieser Voraussetzung Abstand genommen, sondern dort lediglich im Bezug auf den unionsrechtlichen Entschädigungs- und Staatshaftungsanspruch entschieden, es sei nicht in jedem Fall zwingend erforderlich, dass der Geschädigte zuvor im Wege des Primärrechtsschutzes gegen das zum Schaden führende legislative oder judikative Unrecht vorgehe[36]. Für die im „Kühne & Heitz-Urteil“ definierten Korrekturvoraussetzungen bei rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakten folgt hieraus nichts.

Anspruch auf Steuererlass

Im Streitfall sind die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nicht entscheidungserheblich, da die Klägerin im vorliegenden Verfahren nur die Änderung der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen, nicht aber auch einen Erlass der Steuer begehrt.

Das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen. Es besteht ein Entschädigungs- oder Staatshaftungsanspruch, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, oder ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer und der Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Voraussetzung ist, dass die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den Betroffenen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht[37].

Der Bundesfinanzhof hat bereits mehrfach entschieden, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nur ein Erlass der Steuer gemäß § 227 AO in Betracht kommt[38]. Mangels einer Unionsregelung über die Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, insoweit die Verfahrensmodalitäten zu regeln[39].

Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. September 2010 – V R 57/09

  1. EuGH, Urteil vom 17.02.2005?—? C-453/02 und C-462/02?[Lin­ne­we­ber und Akri­t­i­dis][]
  2. BFH, Urteils vom 23. November 2006 – V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436[]
  3. BFH, Urteile vom 13.05.1987 – II R 140/84, BFHE 150, 70, BStBl II 1987, 592; und vom 26.09.2006 – X R 21/04, BFH/NV 2007, 186[]
  4. vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.2009 – C-40/08 [Asturcom Telecomunicationes SL], Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852; ebenso BVerwG, Urteil vom 17.01.2007 – 6 C 32/06, NVwZ 2007, 709[]
  5. vgl. de Weerth, DStR 2008, 1368, 1369 zu § 130 AO[]
  6. BFH, Urteile vom 28.06.2006 – III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; vom 21.03.1996 – XI R 36/95, BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399[]
  7. EuGH, Urteil vom 25.07.1991 – C-208/90 [Emmott], Slg. 1991, I-4269 Rdnr. 23) kann sich ein säumiger Mitgliedstaat zwar bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf die verspätete Einlegung einer Klage berufen ((vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 24.03.2009 – C-445/06 [Danske Slagterier], Slg. 2009, I-2119 Rdnrn. 53 f.[]
  8. EuGH, Urteil [Danske Slagterier] in Slg. 2009, I-2119 Rdnr. 54[]
  9. vgl. BFH, Entscheidungen vom 23.11.2006 – V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23.11.2006 – V R 51/05, BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; vom 09.10.2008 – V R 45/06, BFH/NV 2009, 39; BFH, Urteile in BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399; vom 15.09.2004 – I R 83/04, BFH/NV 2005, 229[]
  10. EuGH, Urteil in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94[][]
  11. EuGH, Urteil vom 19.09.2006 – C-392/04 und C-422/04, I-21 [Germany und Arcor], Slg. 2006, I-8559 Rdnrn. 59, 60 und 62[]
  12. vgl. BFH, Urteil in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436[]
  13. zum Grundsatz der Zusammenarbeit vgl. EuGH, Urteil vom 08.09.2010 – C-409/06 [Winner Wetten][]
  14. vgl. EuGH, Entscheidungen vom 13.01.2004 – C-453/00 [Kühne & Heitz], Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24; I-21 [Germany und Arcor] in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51[]
  15. EuGH-Urteil in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94[]
  16. vgl. bereits BFH, Urteil vom 29.05.2008 – V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889[]
  17. BFH, Urteil in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433[][]
  18. BFH, Urteil vom 08.02.2001 – VII R 59/99, BFHE 194, 466, BStBl II 2001, 506[]
  19. ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. EuGH, Urteile [Kühne & Heitz] in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24; I-21 [Germany und Arcor] in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51[]
  20. EuGH, Urteile [Kühne & Heitz] in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 28; vom 16.03.2006 – C-234/04 [Kapferer] Slg. 2006, I-2585, unter Rdnr. 23; I-21 [Germany und Arcor] in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 52; vom 12.02.2008 – C-2/06, [Kempter], Slg. 2008, I-411, unter Rdnrn. 37 bis 39; vom 03.09.2009 – C-2/08 [Olimpiclub] Slg. 2009, I-7501, EuZW 2009, 739, unter Rdnrn. 23 ff.; und [Asturcom Telecomunicationes SL] in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37[]
  21. vgl. BFH, Urteile in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23.11.2006 – V R 28/05, BFH/NV 2007, 872; in BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399; vom 08.07.2009 – XI R 41/08, BFH/NV 2010, 1; zustimmend Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 130 Rz 32 f. und § 172 Rz 4 a; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 172 bis 177 Rz 41.1; de Weerth, Der Betrieb –DB– 2009, 2677; Tehler in Festschrift für Reiss 2008, 81, 94; Leonard/ Sczcekalla, Umsatzsteuer-Rundschau –UR– 2005, 420, 426 ff.; Birk/Jahndorf, UR 2005, 198, 199 f.; Gosch, DStR 2005, 413 ff., DStR 2004, 1988, 1991[]
  22. EuGH, Urteile [Kapferer] in Slg. 2006, I-2585, unter Rdnrn. 22 und 23; und [Asturcom Telecomunicationes SL] in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnrn. 37 f.[]
  23. unzutreffend daher Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2563; Meilicke, DStR 2007, 1892, 1893; ders., BB 2004, 1087; Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1257[]
  24. so Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 130 AO Rz 22 ff.; Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2564[]
  25. vgl. Wernsmann in HHSp, vor §§ 130 bis 133 AO Rz 43, 114 ff.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Vorbemerkungen zu §§ 172 bis 177 AO Rz 6; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 130 bis 133 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 172 Rz 1; Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., vor §§ 172 bis 177 Rz 5[]
  26. vgl. z.B. EuGH, Urteil [Asturcom Telecomunicationes SL], Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnrn. 49 f.[]
  27. BFH, Urteil in BFH/NV 2008, 1889[]
  28. EuGH, Urteil I-21 [Germany und Arcor] in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 58 bis 60[]
  29. BVerfG, Beschluss vom 04.09.2008 – 2 BvR 1321/07, DStR/ED 2009, 60[]
  30. vgl. im Hinblick auf unionsrechtswidrige Verwaltungsakte zu den §§ 48, 51 VwVfG: BVerwG, Urteile vom 22.10.2009 – 1 C 26/08, DVBl 2010, 261; vom 17.01.2007 – 6 C 32/06, NVwZ 2007, 709[]
  31. vgl. EuGH, Urteil I-21 [Germany und Arcor] in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 53 f.[]
  32. vgl. zu diesem Erfordernis BFH, Urteil in BFH/NV 2005, 229; Kanitz/Wendel, EZWR 2008, 231, 232; Ludwigs, DVBl 2008, 1164, 1170; Müller/Seer, IWB Fach 11, Gruppe 2, 865, 875; Rennert, DVBl 2007, 400, 408; Ruffert, JZ 2007, 407, 409[]
  33. Meilicke, DStR 2007, 1892, 1893; ders., BB 2004, 1087 ff.; und Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1255[]
  34. EuGH, Urteil I-21 [Germany & Arcor] in Slg. 2006, I-8559[]
  35. EuGH, Urteil [Danske Slagterier] in Slg. 2009, I-2119[]
  36. vgl. auch EuGH, Urteil vom 26.01.2010 – C-118/08 [Transportes Urbanos y Servicios Generales], BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnr. 48[]
  37. vgl. EuGH, Urteile vom 12.12.2006 – C-446/04 [Test Claimants in the FII Group Litigation], Slg. 2006, I-11753; vom 13.03.2007 – C-524/04 [Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation], Slg. 2007, I-2107, unter Rdnrn. 110, 111; vom 23.04.2008 C-201/05 [Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation], Slg. 2008, I-2875; und in [Transportes Urbanos y Servicios Generales] in BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnrn. 29 ff.[]
  38. vgl. BFH, Entscheidungen vom 13.01.2005 – V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460; in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; in BFH/NV 2008, 1889; und vom 05.06.2009 – V B 52/08, BFH/NV 2009, 1593[]
  39. vgl. das EuGH, Urteil [Test Claimants in the FII Group Litigation] in Slg. 2006, I-11753, unter Rdnr. 203[]