Erscheint der Preis eines aufgrund einer Ausschreibung abgegebenen Angebots ungewöhnlich niedrig, muss der öffentliche Auftraggeber den Bewerber auffordern, dies zu erläutern. Allerdings ist er im Rahmen eines nichtoffenen Ausschreibungsverfahrens nicht verpflichtet, Bewerber aufzufordern, ihre Angebote im Hinblick auf die in den Verdingungsunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen zu präzisieren, bevor er sie wegen ihrer Ungenauigkeit oder der Nichteinhaltung dieser Spezifikationen ablehnt.

So die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem hier vorliegenden Fall eines nichtoffenes Ausschreibungsverfahren, das von der zu 100 % vom slowakischen Staat kontrollierte Handelsgesellschaft Národná dianiná spolonos a.s. eingeleitet worden ist. Im Amtsblatt der Europäischen Union vom 27. September 2007 ist das nichtoffene Ausschreibungsverfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über die Erbringung von Dienstleistungen der Erhebung von Maut auf Autobahnen und bestimmten Straßen in der Slowakei mit einem geschätzten Wert von mehr als 600 Mio. Euro bekannt gemacht worden. Neben anderen Bewerbern reichten die Konsortien SAG ELV u. a. und Slovakpass[1] Angebote für diesen Auftrag ein. Die Národná dianiná spolonos a.s. forderte diese beiden Konsortien sodann auf, ihre Angebote hinsichtlich bestimmter technischer Aspekte klarzustellen und die ungewöhnlich niedrigen Preise, die sie angesetzt hatten, zu erläutern. Obwohl sie diese Fragen beantworteten, wurden SAG ELV u. a. und Slovakpass von der Národná dianiná spolonos a.s. vom Verfahren ausgeschlossen.
Sie erhoben Klage gegen die Verwaltungsentscheidungen, mit denen ihr Ausschluss vom Verfahren angeordnet wurde; inzwischen ist der Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberster Gerichtshof, Slowakei) mit dieser Rechtssache befasst. Dieses Gericht fragt sich, ob die Entscheidungen der Národná dianiná spolonos a.s. mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und der Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in Einklang stehen. Es vertritt nämlich die Auffassung, dass die Národná dianiná spolonos a.s. die genannten Konsortien vom Verfahren ausgeschlossen habe, ohne sie zuvor aufgefordert zu haben, sich zu der ihnen zur Last gelegten Nichtbeachtung der in den Verdingungsunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen zu äußern, und ohne sie zu den Bedenken hinsichtlich des ungewöhnlich niedrigen Preises der Angebote ausreichend klar befragt zu haben. Das slowakische Gericht möchte daher vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob die Vorgehensweise der Národná dianiná spolonos a.s. mit den Bestimmungen der Vergaberichtlinie[2] in Einklang steht. Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zunächst festgestellt, dass öffentliche Auftraggeber nach der Richtlinie verpflichtet sind, die Einzelposten eines ungewöhnlich niedrigen Angebots zu überprüfen und die Bewerber zur Vorlage der erforderlichen Belege für die Seriosität ihrer Angebote aufzufordern. Folglich steht die Richtlinie dem Standpunkt eines öffentlichen Auftraggebers entgegen, der behauptet, er sei nicht verpflichtet, vom Bewerber eine Erläuterung eines ungewöhnlich niedrigen Preises zu verlangen. Der öffentliche Auftraggeber hat seine Erläuterungsaufforderung klar zu formulieren, so dass die Bewerber in zweckdienlicher Weise den vollen Beweis der Seriosität ihrer Angebote erbringen können. Ob diesem Erfordernis im vorliegenden Fall entsprochen worden ist, wird jedoch das slowakische Gericht zu prüfen haben.
Die Richtlinie regelt – anders als bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten – nicht ausdrücklich, was zu tun ist, wenn im Rahmen eines nichtoffenen Ausschreibungsverfahrens festgestellt wird, dass ein Angebot ungenau ist oder nicht den in den Verdingungsunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen entspricht. Wesensbedingt kann bei einem solchen Verfahren nach der Auswahl der Bewerber das von ihnen eingereichte Angebot grundsätzlich nicht mehr geändert werden, weder auf Betreiben des öffentlichen Auftraggebers noch auf Betreiben des Bewerbers. Denn bei einem solchen Verfahren stehen der Grundsatz der Gleichbehandlung der Bewerber und die Verpflichtung zur Transparenz Verhandlungen zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und einem Bewerber entgegen. Dürfte der öffentliche Auftraggeber von einem Bewerber, dessen Angebot seiner Auffassung nach ungenau ist oder nicht den in den Verdingungsunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen entspricht, Erläuterungen verlangen, so könnte, wenn letztlich das Angebot dieses Bewerbers ausgewählt würde, der Eindruck entstehen, dass der öffentliche Auftraggeber dieses Angebot insgeheim ausgehandelt hat – zum Nachteil der anderen Bewerber und unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Außerdem ist es Sache der Bewerber, dafür zu sorgen, dass ihre Angebote hinreichend genau sind.
Der Gerichtshof der Europäischen Union antwortet daher auf die Vorlagefrage, dass ein öffentlicher Auftraggeber im Rahmen eines nichtoffenen Ausschreibungsverfahrens nach der Richtlinie nicht verpflichtet ist, Bewerber aufzufordern, ihre Angebote im Hinblick auf die in den Verdingungsunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen zu präzisieren, bevor er sie wegen ihrer Ungenauigkeit oder der Nichteinhaltung dieser Spezifikationen ablehnt. Allerdings kann der öffentliche Auftraggeber die Bewerber schriftlich auffordern, ihre Angebote zu erläutern, soweit damit keine Änderung der Angebote einhergeht. Außerdem kann ein Angebot auch in einzelnen Punkten berichtigt oder ergänzt werden, insbesondere wegen einer gebotenen bloßen Klarstellung oder zur Behebung offensichtlicher sachlicher Fehler – vorausgesetzt, diese Änderung läuft nicht darauf hinaus, dass in Wirklichkeit ein neues Angebot eingereicht wird. Eine Erläuterungsaufforderung darf den Bewerber, an den sie gerichtet ist, aber in keinem Fall begünstigen oder benachteiligen, und sie darf erst nach Kenntnisnahme sämtlicher Angebote durch den öffentlichen Auftraggeber erfolgen. Außerdem ist die Aufforderung grundsätzlich in gleicher Weise an alle Unternehmen zu richten, die sich in derselben Situation befinden, und hat sich auf alle Punkte des Angebots zu erstrecken, die ungenau sind oder nicht den technischen Spezifikationen entsprechen. Der öffentliche Auftraggeber darf das Angebot daher nicht wegen Unklarheit eines Punktes ablehnen, der nicht Gegenstand der Aufforderung gewesen ist.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 29. März 2012 – C-599/10, SAG ELV Slovensko a.s. u. a. / Úrad pre verejné obstarávanie
- Zum Konsortium SAG ELV u. a. gehören die SAG ELV Slovensko a.s. die FELA Management AG, die ASCOM (Schweiz) AG, die Asseco Central Europe a.s. und die TESLA Stropkov a.s., zum Konsortium Slovakpass die Autostrade per l’Italia SpA, die EFKON AG und die Stalexport Autostrady SA.[↩]
- Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.03.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. L 134, S. 114[↩]